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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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setze, aber wohl durch einen Grundgedanken<br />

zusammengehalten wird. Es ist<br />

dies der Grundgedanke der Kultur, in<br />

sofern diese jedem Einzelnen von uns<br />

nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die<br />

Erzeugung des Philosophen, des Künstlers<br />

und des Heiligen in uns und ausser<br />

uns zu fördern und dadurch an der Vollendung<br />

der Natur zu arbeiten. Denn wie<br />

die Natur des Philosophen bedarf, so<br />

bedarf sie des Künstlers, zu einem metaphysischen<br />

Zwecke, nämlich zu ihrer<br />

eignen Aufklärung über sich selbst, damit<br />

ihr endlich einmal als reines und<br />

fertiges Gebilde entgegengestellt werde,<br />

was sie in der Unruhe ihres Werdens nie<br />

deutlich zu sehen bekommt – also zu<br />

ihrer Selbsterkenntniss. ... Und so bedarf<br />

die Natur zuletzt des Heiligen, an<br />

dem das Ich ganz zusammengeschmolzen<br />

ist und dessen leidendes Leben nicht<br />

oder fast nicht mehr individuell empfunden<br />

wird, sondern als tiefstes Gleich-<br />

Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen:<br />

des Heiligen, an dem jenes Wunder<br />

der Verwandlung eintritt, auf welches<br />

das Spiel des Werdens nie verfällt,<br />

jene endliche und höchste Menschwerdung,<br />

nach welcher alle Natur hindrängt<br />

und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich<br />

selbst. Es ist kein Zweifel, wir Alle sind<br />

mit ihm verwandt und verbunden, wie<br />

wir mit dem Philosophen und dem<br />

Künstler verwandt sind; es giebt Augenblicke<br />

und gleichsam Funken des hellsten<br />

liebevollsten Feuers, in deren Lichte<br />

wir nicht mehr das Wort ‚ich‘ verstehen;<br />

es liegt jenseits unseres Wesens etwas,<br />

was in jenen Augenblicken zu einem<br />

Diesseits wird, und deshalb begehren<br />

wir aus tiefstem Herzen nach den<br />

Brücken zwischen hier und dort. In unserer<br />

gewöhnlichen Verfassung können<br />

wir freilich nichts zur Erzeugung des<br />

erlösenden Menschen beitragen, deshalb<br />

hassen wir uns in dieser Verfassung, ein<br />

Hass, welcher die Wurzel jenes Pessimismus<br />

ist, den Schopenhauer unser<br />

Zeitalter erst wieder lehren musste, welcher<br />

aber so alt ist als es je Sehnsucht<br />

nach Kultur gab. ... Denn wir wissen,<br />

was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung<br />

auf den Schopenhauerischen<br />

Menschen zu machen, dass wir<br />

seine immer neue Erzeugung vorbereiten<br />

und fördern, indem wir das ihr<br />

Feindselige kennen lernen und aus dem<br />

Wege räumen – kurz dass wir gegen<br />

Alles unermüdlich ankämpfen, was uns<br />

um die höchste Erfüllung unsrer Existenz<br />

brachte, indem es uns hinderte,<br />

solche Schopenhauerische Menschen<br />

selber zu werden. –“<br />

Offenbar streiten sich hier bei <strong>Nietzsche</strong><br />

noch zwei Konzepte: einmal wendet er<br />

sich an alle Menschen, sich auf ihre je<br />

eigene Weise zugunsten des Hervorbringens<br />

des Genius „in und außer uns“ zu<br />

bemühen – <strong>zum</strong> andern hält er mit Schopenhauer<br />

den Normalmenschen <strong>für</strong> „faul“<br />

und „Fabrikwaare“. Wie seine spätere<br />

Entscheidung aussehen wird, wissen wir;<br />

und auch der Keim <strong>zum</strong> Züchtungsgedanken<br />

in Richtung auf den Übermenschen<br />

ist hier bereits angelegt, denn dieser<br />

Gedanke folgt direkt aus der Überlegung,<br />

wie die Bedingungen <strong>für</strong> das Erscheinen<br />

des Genius verbessert werden<br />

könnten.<br />

Deshalb stößt er hier auch auf den Evolutionsgedanken<br />

Darwins, den er bereits einseitig<br />

auslegt, indem es ihm allein auf die<br />

steigernde Mutation ankommt, die er nicht<br />

als zufällig, sondern als Teleologie der<br />

Natur ansieht, wohingegen er das Wesen<br />

114 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000

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