Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Gründen immer wieder zu Stellungnahmen<br />
veranlaßte. Konkrete Anlässe da<strong>für</strong><br />
ergaben sich durch die Ehe seiner Schwester<br />
mit dem bekannten Agitator dieses<br />
Lagers Bernhard Förster, Kontaktversuche<br />
von prominenten Antisemiten wie Theodor<br />
Frisch und den judenfeindlichen Tendenzen<br />
im Kreis um Richard Wagner. In<br />
all diesen Fällen reagierte <strong>Nietzsche</strong> deutlich<br />
ablehnend und brachte seine Verachtung<br />
<strong>für</strong> dererlei Tendenzen deutlich <strong>zum</strong><br />
Ausdruck. Neben privaten Stellungnahmen<br />
zeigt sich dies auch in einem kurzen<br />
Nebensatz in „Jenseits von Gut und Böse“,<br />
wo er meint, es sei vielleicht billig und<br />
nützlich, „die antisemitischen Schreihälse<br />
des Landes zu verweisen“. 37 Diese<br />
Ablehnung ergab sich bei <strong>Nietzsche</strong> allerdings<br />
nicht nur aufgrund des pöbelhaften<br />
Agierens der politischen Vertreter des<br />
Antisemitismus, was auch akademisch<br />
gebildete Antisemiten wie den Historiker<br />
Heinrich von Treitschke abschreckte.<br />
Vielmehr läßt sich bei dem Philosophen<br />
eine durchaus differenzerite, mitunter sogar<br />
wohlwollende Einstellung gegenüber<br />
den Juden ausmachen. Seine Wertschätzung<br />
kommt etwa in „Die fröhliche Wissenschaft“<br />
<strong>zum</strong> Ausdruck. Hier meint er<br />
gar, die Juden hätten den Europäern die<br />
Fähigkeit <strong>zum</strong> logischen Denken gebracht.<br />
<strong>Nietzsche</strong>s dortige Anspielung auf „die<br />
krummen Nasen“ ist nicht antisemitisch<br />
gemeint, erhebt er doch hier die Juden über<br />
die Deutschen: „Europa ist gerade in Hinsicht<br />
auf Logisierung, auf reinlichere<br />
Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig<br />
Dank schuldig; voran die Deutschen,<br />
als eine beklagenswert deraisonnable Rasse,<br />
der man auch heute immer noch zuerst<br />
‚den Kopf zu waschen‘ hat. Überall,<br />
wo Juden zu Einfluß gekommen sind,<br />
haben sie feiner zu scheiden, schärfer zu<br />
folgern, heller und sauberer zu schreiben<br />
gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein<br />
Volk ‚zur Raison‘ zu bringen.“ 38 Es versteht<br />
sich von selbst, daß sich eine solche<br />
Einschätzung schwerlich in Einklang mit<br />
späteren nationalsozialistischen Auffassungen<br />
bringen läßt.<br />
<strong>Nietzsche</strong> kritisierte darüber hinaus auch<br />
Behauptungen von Antisemiten, bezeichnete<br />
er doch nicht nur die Juden als „die<br />
stärkste, zäheste und reinste Rasse, die<br />
jetzt in Europa lebt“, sondern meinte gar,<br />
sie könnten „die Herrschaft über Europa<br />
haben“, arbeiteten aber gerade nicht darauf<br />
hin und hätten auch keine Pläne da<strong>für</strong>.<br />
Der Philosoph forderte gar, man solle<br />
ihrem Emanzipations- und Integrationsstreben<br />
entgegenkommen. Die „stärkeren<br />
und bereits fester geprägten Typen des<br />
neuen Deutschtums“ sollten sich mit ihnen<br />
einlassen, wodurch es zur „Züchtung<br />
einer neuen über Europa regierenden Kaste“<br />
kommen könne. <strong>Nietzsche</strong> wörtlich:<br />
„... es wäre von vielfachem Interesse, zu<br />
sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst<br />
des Befehlens und Gehorchens – in beidem<br />
ist das bezeichnete Land heute klassisch<br />
– das Genie des Geldes und der Geduld<br />
(und vor allem etwas Geist und Geistigkeit,<br />
woran es reichlich an der bezeichneten<br />
Stelle fehlt –) hinzutun, hinzuzüchten<br />
ließe.“ 39 Dem Philosophen<br />
schwebte somit eine Mischung von Deutschen<br />
und Juden vor, welche zwar dem<br />
politischen Denken in ethnischen Kategorien<br />
verhaftet blieb, aber nicht von einer<br />
antisemitischen Grundauffassung zeugt. 40<br />
Dieser Einschätzung widersprechen auch<br />
nicht abwertende Kommentare zur jüdischen<br />
Religion, die vor einem anderen<br />
Hintergrund gesehen werden müssen.<br />
<strong>Nietzsche</strong> bezeichnete die Juden zwar in<br />
„Der Antichrist“ als „das verhängisvollste<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 23