Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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Helmut Walther (Nürnberg)<br />
<strong>Nietzsche</strong> als Erzieher<br />
Zur zentralen Bedeutung der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung<br />
Das Vorbild<br />
Wer je einen Lehrer gefunden hat, der ihm<br />
einen Schlüssel <strong>für</strong> die Entzifferung der<br />
eigenen Persönlichkeit in die Hand gedrückt<br />
hat, wird diesem gegenüber eine<br />
tiefe Dankbarkeit empfinden, ohne doch<br />
immer nur Schüler zu bleiben. Undankbar<br />
schiene es doch, seines ehemaligen<br />
Lehrers zu vergessen, nachdem man sich<br />
von seiner hilfreichen Hand gelöst hat –<br />
selbst wenn man sich gegen ihn zu wenden<br />
gezwungen sieht. Genau in einem solchen<br />
Verhältnis sieht sich <strong>Nietzsche</strong> zu<br />
Schopenhauer, der ihm <strong>zum</strong> beispielgebenden<br />
Leitbild wurde, ganz ähnlich wie<br />
Sokrates <strong>für</strong> Platon. Wie letzterer in vielen<br />
seiner Dialoge verehrend und dankend<br />
seinem Lehrmeister huldigt und doch zugleich<br />
über ihn hinausgeht, ebenso ruft<br />
<strong>Nietzsche</strong> immer wieder Schopenhauer als<br />
Vorbild auf. Mit ihm geißelt er die Nichtswürdigkeit<br />
seiner Zeit, ohne doch bei dessen<br />
Nein zu aller scheinhafter Welt stehenzubleiben.<br />
Und so ward <strong>Nietzsche</strong> selbst<br />
wiederum ein derartiger Entschlüsseler,<br />
wie es viele bedeutende seiner Leser, meist<br />
dankbar, bezeigen – um etwa nur Heidegger<br />
und Jaspers, Thomas Mann und Gottfried<br />
Benn oder Hermann Hesse zu nennen.<br />
Mit seiner Dritten Unzeitgemäßen<br />
Betrachtung Schopenhauer als Erzieher<br />
löst er seine Dankesschuld ein, indem er<br />
selbst <strong>zum</strong> Lehrer wird. <strong>Nietzsche</strong> wahrt<br />
diese Treue – trotz aller harter Gegnerschaft<br />
– auch seinem anderen großen Vorbild,<br />
Richard Wagner, gegenüber, wie es<br />
der Aphorismus „Sternenfreundschaft“<br />
und selbst noch die letzten Schriften zu<br />
Wagner bezeugen.<br />
Das Rauschen in den Feuilletons zu seinem<br />
<strong>100.</strong> <strong>Todestag</strong> zeigte immer wieder<br />
den Zwiespalt auf, vor den sich moderne<br />
Rezipienten <strong>Nietzsche</strong>s gestellt sehen – in<br />
Vielem ablehnen zu müssen, ohne doch<br />
die Faszination damit gänzlich abstreifen<br />
zu können. Läßt sich das Abzulehnende<br />
relativ leicht konkretisieren, so etwa seine<br />
Unethik 1 im Namen des Willens zur<br />
Macht; läßt sich auch sein blindes Übergehen<br />
der gesellschaftlich bedeutsamen<br />
Strömungen seiner Zeit ohne weiteres kritisieren<br />
– so ist es doch viel schwieriger,<br />
dasjenige in Worte zu fassen, was den<br />
Leser an „positiver Wirksamkeit“ in seinen<br />
Schriften über das Formale hinaus als<br />
Faszinosum anspricht.<br />
Richard Rorty benennt das von <strong>Nietzsche</strong><br />
zu Bewahrende in der ZEIT Nr. 35 vom<br />
24.08.2000 unter dem Titel „Prophet der<br />
Vielfalt“ so:<br />
„Wir sollten <strong>Nietzsche</strong>s ... Kritik an<br />
konventionellen Ideen über die Wahrheit<br />
so lesen, als entspränge sie der Hoffnung...,<br />
die Freigeisterei und Vielgeisterei<br />
des Menschen werde in Zukunft<br />
stärker und vollständiger <strong>zum</strong> Ausdruck<br />
kommen. Wir sollten es weder Hitler<br />
noch Heidegger überlassen, <strong>Nietzsche</strong><br />
<strong>für</strong> uns zu interpretieren. Wir sollten ihn<br />
in eigener Regie lesen und unser Möglichstes<br />
tun, um die Kleinlichkeit und<br />
das Ressentiment zu ignorieren, von<br />
denen seine Texte gelegentlich entstellt<br />
werden. Und nicht zuletzt sollten wir<br />
uns von seiner überschwänglichen Hoffnung<br />
auf die Zukunft des Menschen<br />
anstecken lassen, von der Hoffnung, die<br />
102 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000