Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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Darwinismus auf der einen Seite und allen<br />
Formen von Idealismus und Ideologie<br />
hindurch; nicht zwar zur Hegelschen Synthese,<br />
in der alles mehrfach „aufgehoben“<br />
ist, sondern: – auf zu neuen Ufern! – das<br />
ist seine unverlierbare Wirkung. Er verweist<br />
auf die absolute und in jedem Sinne<br />
unbedingte Bedeutung des Individuums<br />
zurück – was ihn mit der griechischen<br />
Philosophie, dem Christentum und nicht<br />
zuletzt Luther verbindet: Die Vernunft entdeckt<br />
das Individuelle ganz anders als der<br />
Verstand. Aber auch dieses Unerhörte der<br />
Vernunft gerät an sein Ende (der Metaphysik),<br />
erstarrt in deren Reflexionsphase<br />
zu „Lehren“, „Leeren“, die überschritten<br />
werden müssen, und genau dagegen „rast“<br />
im Versuch des Transzendierens <strong>Nietzsche</strong>s<br />
„Lebendigkeit“ an.<br />
Recht wird er immer behalten mit dem<br />
Anspruch, mit dem er bereits von Anfang<br />
an aufgetreten ist, und der sich durch all<br />
seine Schriften hindurchzieht: Werde der<br />
du bist, und das heißt vor allem: Werde<br />
über dich hinaus – damit ist (trotz aller<br />
Gegnerschaft <strong>Nietzsche</strong>s <strong>zum</strong> Darwinismus)<br />
die Entwicklungspotenz des Lebendigen<br />
ausgesprochen, und so empfahl er<br />
Lou Salomé und anderen seine Dritte Unzeitgemäße<br />
Betrachtung als Lektüre. Warum<br />
ausgerechnet dieses Werk? Weil er ein<br />
sehr gutes Gefühl da<strong>für</strong> hat, daß er hier<br />
seinen Ansatzpunkt am reinsten darstellt,<br />
und zwar noch ohne jene Konsequenzen,<br />
die sein Philosophieren spätestens seit der<br />
Fröhlichen Wissenschaft so problematisch<br />
machen. Und Cosima Wagner konnte ihm<br />
deshalb am 26. Oktober 1874 schreiben:<br />
„Dieses ist meine Unzeitgemässe ... und<br />
ich danke Ihnen von Herzen <strong>für</strong> die freudige<br />
Erregung, welche mir durch die Lesung<br />
derselben geworden ist. Gefühle,<br />
Gedanken, Einfälle, Erkenntnisse, Können<br />
und Wissen haben mich daran Staunen<br />
gemacht, und an dem Begeisterungsfeuer<br />
welches alles durchglüht, habe ich mich<br />
wiederum erwärmt ...“ (KGB; II, 4, Nr.<br />
599, S. 591).<br />
<strong>Nietzsche</strong> selbst schreibt im Rückblick<br />
zehn Jahre später nach der Abfassung der<br />
ersten Teile des Zarathustra an Overbeck<br />
dazu: „Beim Durchlesen meiner „Litteratur“,<br />
die ich jetzt wieder einmal beisammen<br />
sehe, fand ich mit Vergnügen, daß<br />
ich noch alle starken Willens-Impulse, die<br />
in ihr zu Worte kommen, in mir habe und<br />
daß auch in dieser Hinsicht kein Grund<br />
zu Entmuthigung da ist. Übringes habe ich<br />
so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich<br />
im „Schopenhauer als Erzieher“) vorgezeichnet<br />
habe. Falls Du den Zarath. mit<br />
in Deine Mußezeit nehmen solltest, nimm,<br />
der Vergleichung halber, doch die eben<br />
genannte Schrift mit hinzu (ihr Fehler ist,<br />
daß eigentlich in ihr nicht von Schopenhauer,<br />
sondern fast nur von mir die Rede<br />
ist – aber das wußte ich selbst nicht, als<br />
ich sie machte.)“ (Briefwechsel mit F. u.<br />
I. Overbeck, S. 263 f., Brief von Anfang<br />
August 1884 aus Sils an Overbeck)<br />
Im „Schopenhauer“ als einer vor allem<br />
<strong>kritische</strong>n Schrift sind neben dem Dank<br />
an den verehrten Lehrer all jene Beobachtungen<br />
zusammengetragen, die <strong>zum</strong> Motor<br />
des <strong>Nietzsche</strong>schen Denkens werden<br />
und damit alle Grundmuster erst keimhaft<br />
angelegt, aus denen seine Philosophie ihre<br />
einseitigen Konsequenzen zieht. Mit ihr<br />
geht er über den Lehrer hinaus, und wendet<br />
sich von dessen metaphysischen Willen<br />
<strong>zum</strong> Nichts um in die Formulierung<br />
der diesseitigen Ziele und Aufgaben.<br />
Ebenso wie er Schopenhauer übersteigt,<br />
kann man mit <strong>Nietzsche</strong> ein wichtiges<br />
Stück Weg, ihn sich „einverleibend“, zu<br />
sich selbst gehen und eben damit über ihn<br />
124 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000