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Forschung & Lehre 8 | 2013

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8|13 <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> SICHERHEIT STATT FREIHEIT? 613<br />

Schlimmsten, was Neugeborenen und<br />

Heranwachsenden zustoßen kann.<br />

Auch für Erwachsene gilt: Es gibt nur<br />

eines, was schlimmer ist als systematisch<br />

beobachtet zu werden – systematisch<br />

nicht beobachtet zu werden, uninteressant<br />

zu sein. Es adelt ungemein,<br />

wenn sich ein Geheimdienst für das interessiert,<br />

was man treibt. Ich fürchte,<br />

mit der Kränkung leben zu müssen,<br />

dass meine Arbeiten für den NSA uninteressant<br />

sind. Aber ernsthaft: es beruhigt<br />

natürlich viele, fast alle, auch diejenigen,<br />

die das nicht so sagen, wenn wir<br />

wissen, dass der US-Geheimdienst etwa<br />

die Sauerland-Gruppe identifiziert und<br />

den deutschen Behörden entsprechende<br />

Hinweise gegeben hat. Und es empört<br />

zu Recht, wenn die deutschen Behörden<br />

die NSU-Terroristen nicht auf<br />

dem Schirm hatten. Ich wäre nicht verblüfft,<br />

wenn herauskäme, dass nicht der<br />

Verfassungsschutz einen V-Mann beim<br />

NSU, sondern der NSU einen V-Mann<br />

beim Verfassungsschutz hatte. Und ich<br />

freue mich, dass Telefonate und Mails<br />

von Bankstern wie Notheiß und<br />

Drumm abgefangen und publik gemacht<br />

wurden.<br />

F&L: Geht es so weit, dass wir unsere<br />

Überwacher, den „Großen Bruder“, am<br />

Ende noch lieben lernen?<br />

Jochen Hörisch: Das ist eine Frage der<br />

Psychodisposition. Viele, wohl allzuviele<br />

missverstehen ihr Geborgenheitsbedürfnis<br />

und wollen im Gefühl leben, geschützt<br />

zu sein. Sie vertrauen etwa darauf,<br />

dass Gott bei ihnen ist alle Tage bis<br />

an der Welt Ende – Gott als Idealfigur<br />

des liebevollen Überwachers. Der Priester<br />

oder der Leiter der Odenwaldschule<br />

kann dann dieses Geborgenheitsbedürfnis<br />

missbrauchen – genau in dem Maße,<br />

in dem wir die Einsicht verdrängen,<br />

dass Misstrauen eine Produktivkraft<br />

sein kann. Schon rein funktional geboten<br />

ist aber auch das Misstrauen in das<br />

Misstrauen – nur mit Misstrauen (ist<br />

das Wasser aus der Leitung vergiftet?)<br />

lässt sich einfach nicht leben.<br />

F&L: Für die einen ist der Whistleblower<br />

Edward Snowden ein Held, für die<br />

anderen ein Verräter. Was meinen Sie?<br />

Jochen Hörisch: Ich kenne Edward<br />

Snowden nicht persönlich, mir liegen<br />

auch keine Geheimdienstinformationen<br />

über ihn vor, und also zögere ich systematisch,<br />

ihn zu charakterisieren. Wohl<br />

aber ist mir sein Typus kulturhistorisch<br />

vertraut: dreißigjährig (wie Jesus, als<br />

sein öffentliches Wirken beginnt), für<br />

viele eine Erlöserfigur, für andere ein<br />

seltsamer Heiliger, einer, der seine<br />

Foto: picture-alliance<br />

Sphäre (er war ja NSA-Mitarbeiter!) gewechselt<br />

hat, kurzum: ein Konvertit<br />

und interessant wie alle Konvertiten.<br />

Aber er kommt aus seiner Herkunftssphäre<br />

nicht recht heraus: Die chinesischen,<br />

russischen und ecuadorianischen<br />

Geheimdienste, die, darüber machen<br />

wir uns keine Illusionen, auch gerne so<br />

fit wären wie der US- und UK-Geheimdienst,<br />

dürften sich nun sehr für sein<br />

Wissen interessieren. Und Snowden<br />

wird alle Paradoxien der Geheimdienstwelt<br />

durchleiden, also einen Passionsweg<br />

beschreiten.<br />

F&L: Müssen wir zwangsläufig auf Freiheit<br />

verzichten, um sicher leben zu können?<br />

Jochen Hörisch: Ja, Freiheit und Sicherheit<br />

liegen im Streit. Wer die Freiheit<br />

und den Reiz des Alpinismus oder des<br />

Drachenfliegens genießt, muss (und will<br />

wohl auch!) um sein Leben fürchten.<br />

Die Briten, bekanntlich besonders freiheitssensibel,<br />

akzeptieren deutlich mehr<br />

Videoüberwachungen auf öffentlichen<br />

Plätzen als wir in Deutschland. Aber<br />

natürlich gilt auch die Umkehrung (und<br />

eben das macht die Diskussion so<br />

schwierig!): wer auf Freiheit verzichtet,<br />

kann die Unsicherheit steigern. Denn<br />

nur freie Kritik kann auf bedrohliche<br />

Defizite aufmerksam machen. Nordkorea<br />

ist wohl das unfreiste Land der Welt<br />

– und das mit der unsichersten Zukunft.<br />

F&L: Warum empören sich so wenige<br />

Bürger?<br />

Jochen Hörisch: Möglicherweise sind<br />

sie klüger als die Empörungsmedien.<br />

Sie wissen oder ahnen doch zumindest,<br />

dass die moralische Distinktion „gutböse“<br />

analytisch nicht sehr produktiv,<br />

also keine „gute“ Unterscheidung ist.<br />

Alle, die Geheimdienste wie ihre Kritiker,<br />

wollen ja nur das Gute – gar unser<br />

Bestes (sie bekommen das auch häufig).<br />

Und genau das ist das Problem.<br />

F&L: Was bleibt für den Einzelnen?<br />

Jochen Hörisch: Sehr konkret: man<br />

muss bei Facebook nicht mitmachen.<br />

Und für Professoren: niemand zwingt<br />

uns, auf die beobachtbaren Kennzahlen<br />

(Drittmitteleinwerbung, Ranking, Quotation-Index<br />

etc.) zu achten. Man kann<br />

auch auf die von Humboldt beschworene<br />

Einsamkeit des Forschers vertrauen<br />

– und gerade dann etwas leisten, was<br />

wert ist, beobachtet zu werden.

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