Forschung & Lehre 8 | 2013
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700 EXKURSION <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> 8|13<br />
Exkursion<br />
„Bitte, wo geht es hier zum Bahnhof?“<br />
Es scheint eine niedersächsische Spezialität<br />
zu sein, bei Fragen zuerst einmal das<br />
Erfragte zu wiederholen und freundlich mit<br />
ach so, ja, also usw. zu ergänzen oder einzurahmen.<br />
Der Prototyp wäre entsprechend:<br />
„Bitte, wo geht es hier zum Bahnhof?“ ?<br />
„Ach so, zum Bahnhof, also, ja, zum Bahnhof,<br />
hm, da müssen Sie…“<br />
Ein denkwürdiges Beispiel für diese diskurspragmatisch<br />
sehr eigene Formulierungskunst<br />
ist mir einmal in Göttingen begegnet:<br />
Beim Gang durch die Stadt bogen wir um<br />
eine Ecke und sahen in der Straße Ambulanzen<br />
und Sanitäter und viel Militärpolizei;<br />
offenbar gab es auch Verletzte, die noch auf<br />
dem Boden lagen und hinter Absperrungen<br />
behandelt wurden; auch Schaulustige hielten<br />
sich im Bereich der polizeilichen Blaulichter<br />
und der roten Lichter der Krankenwagen<br />
auf.<br />
An der Ecke standen nun drei junge Männer<br />
mit Bierflaschen in den Händen, die sich<br />
unterhielten und die Szene betrachteten. Auf<br />
meine interessierte Frage „Was ist denn hier<br />
los?“ schaute mich einer der Jugendlichen<br />
verständnislos an und sagte dann in aller<br />
Seelenruhe: „Ach so, ja, was hier los ist, ja<br />
also ? Da gab es vorhin eine Schlägerei, eine<br />
Schlägerei zwischen englischen und deutschen<br />
Soldaten.“<br />
Diese Episode ist nicht einfach als Einzelfall<br />
abzutun. Wenn wir uns in Hannover oder<br />
Göttingen oder sonst irgendwo in Niedersachsen<br />
aufhielten, haben wir uns als Freiburger<br />
und Münchner Süddeutsche systematisch<br />
einen Spaß daraus gemacht, diese kommunikationspragmatische<br />
Spezialität zu<br />
provozieren und die Probe aufs Exempel zu<br />
machen. Auch wenn wir gar nicht zum Bahnhof<br />
wollten oder genau wussten, wo dieser<br />
sich befand, fragten wir nach dem Bahnhof,<br />
und bekamen dann, hocherfreut, die erwartete<br />
Antwort: „So, ja, also zum Bahnhof, Sie<br />
wollen zum Bahnhof…“. Besonders ergiebig<br />
waren diese Antworten auf unsere Fragen<br />
beim Besuch der Expo in Hannover, aber<br />
auch in unserem kleinen Urlaubsort Alvern,<br />
wo man allerdings nicht nach dem Bahnhof<br />
fragen konnte, gab es schöne Belege für den<br />
Typ dieser freundlichen Antworten.<br />
Diese Geschichte darf man übrigens auf<br />
gar keinen Fall in die Nähe des bekannten<br />
Witzes rücken, in dem der Jargon der Sozialpädagogen<br />
ironisiert wird. Ein Sozialarbeiter<br />
wird gefragt: „Wo geht es denn hier zum<br />
Bahnhof?“ Er antwortet: „Das weiß ich<br />
nicht, ich find’s aber gut, dass du das mal<br />
ansprichst“.<br />
Wulf Oesterreicher, März <strong>2013</strong>. Zuerst erschienen im Forum Sprachkritik<br />
der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.