Forschung & Lehre 8 | 2013
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642 OFFENER BRIEF <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> 8|13<br />
Veröffentlichen<br />
– oder untergehen<br />
Ein offener Brief von britischen Wissenschaftlern*<br />
| DOKUMENTATION | Die Auswirkungen des „Publishor-perish-Drucks“<br />
werden von immer mehr Wissenschaftlern beklagt. Britische<br />
Wissenschaftler aus den Lebenswissenschaften, die selbst als Gutachter tätig<br />
sind, fordern eine Reform der gängigen Publikationsstrukturen. Sie weisen auf<br />
neue Initiativen und Zeitschriften hin, in denen Studienergebnisse unabhängig<br />
vom Erkenntnisgewinn und vom Ergebnis veröffentlicht werden.<br />
In einer idealen Welt würden wissenschaftliche<br />
Entdeckungen nicht<br />
davon abhängen, was Wissenschaftler<br />
entdecken wollen. Ein guter<br />
Forscher würde bei einer Hypothese ansetzen,<br />
ein Verfahren zur Prüfung der<br />
Hypothese entwickeln, die entsprechende<br />
Studie nach Plan durchführen<br />
und dann anhand der Belege entscheiden,<br />
ob die Hypothese bestätigt wurde.<br />
Mit diesem Ansatz würden wir uns<br />
schrittweise einem genaueren Verständnis<br />
der Natur annähern.<br />
Unglücklicherweise entfernen sich<br />
die Lebenswissenschaften zunehmend<br />
von dieser Denkweise. Studenten<br />
lernen bereits in einer frühen Ausbildungsphase,<br />
dass die Suche nach<br />
der Wahrheit mit dem unmittelbaren<br />
Druck des „Publish or Perish“ in Einklang<br />
gebracht werden muss. Oberste<br />
Priorität von Nachwuchswissenschaftlern,<br />
die erfolgreich im Wettbewerb um<br />
eine akademische Festanstellung bestehen<br />
wollen, ist es daher, in den Zeitschriften<br />
mit dem größten Ansehen und<br />
dem höchsten Einfluss zu veröffentlichen.<br />
Wissenschaftler, denen es gelingt,<br />
zu überleben und sich zu etablieren, geben<br />
diese Lektion aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach wiederum an ihre Doktoranden<br />
weiter.<br />
Diese Veröffentlichungskultur ist<br />
Gift für die Wissenschaft. Aktuelle Studien<br />
zeigen, wie der enorme Karrieredruck<br />
Lebenswissenschaftler veranlasst,<br />
auf fragwürdige Praktiken zur Steigerung<br />
des veröffentlichten Volumens zurückzugreifen,<br />
wie das Cherry-Picking<br />
bei Daten und Analysen, bei dem die<br />
„Rosinen herausgepickt“ und geradlinige<br />
Geschichten erzählt werden, die die<br />
Ziele einer Studie nach ihrem Abschluss<br />
neu erfinden, um unvorhergesehene<br />
Ergebnisse „vorherzusagen“, oder<br />
das Versäumnis, eine ausreichende statistische<br />
Aussagekraft sicherzustellen.<br />
Es ist keine kleine Minderheit, die so<br />
verfährt. Es handelt sich um eine gängige<br />
Praxis, die Folge des Umfelds und<br />
der Anreizsysteme ist, in denen sich die<br />
meisten Wissenschaftler bewegen.<br />
»Eine strukturelle Reform<br />
ist die einzige Lösung.«<br />
Parallel dazu fördern Zeitschriften<br />
diese schlechten Gepflogenheiten, indem<br />
sie der Veröffentlichung von Ergebnissen<br />
den Vorzug geben, die als positiv,<br />
originell, verständlich und ansprechend<br />
angesehen werden. In vielen Bereichen<br />
der Lebenswissenschaften fließen<br />
negative und verwickelte Ergebnisse<br />
oder Versuche, frühere Studien zu reproduzieren,<br />
niemals in die wissenschaftliche<br />
Leistungsbilanz ein. Sie lagern<br />
vielmehr unveröffentlicht in einer<br />
großen Schublade.<br />
Die Wissenschaftsgemeinde ist sich<br />
dieser Probleme sehr bewusst – tatsächlich<br />
sind sie seit Jahrzehnten bekannt.<br />
Das Problem besteht darin, dass Wissenschaftler,<br />
die sich dafür entscheiden,<br />
jenseits dieses Systems zu arbeiten, sich<br />
unmittelbar in eine nachteilige Position<br />
ihren Kollegen gegenüber begeben. Eine<br />
strukturelle Reform ist die einzige<br />
Lösung. Einige von uns haben kürzlich<br />
Maßnahmen ergriffen, um die Veränderung<br />
auf dieses Ziel hin voranzutreiben.<br />
Seit Mai dieses Jahres bietet Cortex,<br />
eine Peer-Review-Zeitschrift zur Nervensystem-<br />
und Kognitionsforschung,<br />
Verfassern die Möglichkeit, Artikel einer<br />
Kategorie zu veröffentlichen, die als<br />
Registered Report („angemeldeter Bericht“)<br />
bezeichnet werden. Anders als<br />
konventionelle wissenschaftliche Veröffentlichungen,<br />
bei denen die Rohfassung<br />
erst nach Abschluss der Studie begutachtet<br />
wird, liegt dieser Schritt bei<br />
angemeldeten Berichten vor dem Beginn<br />
der Datenerfassung. Werden wissenschaftliche<br />
Fragestellung und Verfahren<br />
als solide erachtet, wird dem<br />
Verfasser die prinzipielle Annahme des<br />
Artikels angeboten. Damit ist eine ergebnisunabhängige<br />
Veröffentlichung<br />
praktisch voll gesichert.<br />
Die Zeitschriften Attention, Perception<br />
& Psychophysics und Perspectives<br />
on Psychological Science haben ähnliche<br />
Vorhaben auf den Weg gebracht.<br />
Beide Initiativen sind der bereits etablierten<br />
Vorgabe für klinische Studien<br />
entlehnt, die fordert, dass Versuchsprotokolle<br />
vorab angemeldet werden. Diese<br />
neuen Initiativen gehen noch darüber<br />
hinaus, da sie zulassen, dass die späteren<br />
Ergebnisse unabhängig vom Erkenntnisgewinn<br />
in derselben Zeitschrift<br />
veröffentlicht werden.<br />
Die Voranmeldung überwindet den<br />
Publikationsbias, der negative Ergebnisse<br />
aus der Fachliteratur verbannt, da<br />
redaktionelle Entscheidungen sich an<br />
Fragestellung und Vorgehen statt an Ergebnissen<br />
orientieren. Die Begutachtung<br />
vor wie nach der Studie wirkt außerdem<br />
als Abschreckung gegen fragwürdige<br />
Praktiken, die die „Publikati-