Musikalische Bildung in Deutschland - Deutscher Musikrat
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LANDESMUSIKRAT BADEN-WÜRTTEMBERG<br />
Zur Gesamtsituation der musikalischen Jugendbildung<br />
<strong>in</strong> Baden-Württemberg<br />
(von Prof. Dr. Hermann Wilske)<br />
Möglicherweise gibt es kaum e<strong>in</strong> Bundesland, das auf e<strong>in</strong>e vergleichbare Intensität<br />
des Musiklebens verweisen kann. Im Landesmusikrat Baden-Württemberg<br />
gibt es 75 Mitgliedsverbände, die <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit etwa 1,4 Millionen<br />
Menschen repräsentieren. Dies bedeutet zugleich, dass jeder 7. Bewohner<br />
von Baden-Württemberg <strong>in</strong> der Musik organisiert ist. Symptomatisch für diese<br />
Dichte s<strong>in</strong>d auch die Ergebnisse im Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“, wo<br />
<strong>in</strong> aller Regel zwischen 20 und 35 % der 1. Preise errungen werden, obwohl<br />
doch Baden-Württemberg lediglich 13 % der Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> stellt.<br />
Auch an anderer Stelle wird die große Bedeutung der Musik anhand von Zahlen<br />
deutlich: So gibt es 220 öffentlich geförderte Musikschulen (ca. 25% der öffentlich geförderten Musikschulen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>).<br />
Ebenso kann man auf fünf staatliche Musikhochschulen sowie auf fünf Musikakademien verweisen.<br />
Dessen ungeachtet gibt es auch <strong>in</strong> diesem Bundesland Defizite im Musikleben, und dies betrifft <strong>in</strong>sbesondere den schulischen<br />
Bereich. Zwar kann man auch hier immer noch – etwa im gymnasialen Bereich – auf Leuchttürme verweisen, man<br />
denke etwa an die fast 40 Gymnasien mit Musikprofil. Doch gibt es auch hier negative Tendenzen. Um 1990 hatte man<br />
noch ca. 8000 Musikensembles an den Schulen des Landes (Chöre, Orchester, Big Bands, etc.). Es gab e<strong>in</strong>e schützende<br />
Regelung, wonach Schulleiter zeitgleich zu diesen Musikensembles ke<strong>in</strong>en anderen Unterricht e<strong>in</strong>richten durften. Mit<br />
dem Wegfall des Primats für die Musikensembles ist deren Zahl auf gut 5000 gesunken.<br />
Jenseits der Gymnasien jedoch gibt es e<strong>in</strong> deutliches Gefälle. So ist seit vielen Jahrzehnten für den Musikunterricht an<br />
Grundschulen lediglich e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Stunde vorgesehen gewesen. Mit der E<strong>in</strong>führung des Fächerverbundes (Mensch-<br />
Natur-Kultur) gibt es ke<strong>in</strong>e ausgewiesene Musikstunde, weil grundsätzlich <strong>in</strong> allen Fächern auch musiziert werden kann.<br />
Musik hat also gewissermaßen überall se<strong>in</strong>en Platz, jedoch nirgendwo e<strong>in</strong>en richtigen.<br />
An den Realschulen des Landes gibt es nur noch punktuell e<strong>in</strong>e durchgängige Versorgung mit Musik. Noch schlechter<br />
sieht es an den Hauptschulen aus, wo der Musikunterricht häufig auf Angebote im Ergänzungsbereich reduziert ist. Die<br />
Vorgabe Leo Kestenbergs, wonach Musik <strong>in</strong> allen Schularten und auf allen Schulstufen mit zwei Wochenstunden unterrichtet<br />
werden soll, wird auch <strong>in</strong> Baden-Württemberg – je weiter man sich vom Gymnasium entfernt – nicht e<strong>in</strong>gelöst. Dies<br />
gilt <strong>in</strong> besonderer Weise für die beruflichen Gymnasien, wo der Musikunterricht letztlich e<strong>in</strong> Desiderat darstellt.<br />
Die E<strong>in</strong>führung des Fächerverbunds „Mensch, Natur und Kultur“ <strong>in</strong> den<br />
Grundschulen Baden-Württembergs im Schuljahr 2003/04<br />
Im Schuljahr 2004/05 führte die Landesregierung <strong>in</strong> Baden-Württemberg unter der Federführung von Kultusm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Dr.<br />
Annette Schavan MdL den Fächerverbund „Mensch, Natur und Kultur“ <strong>in</strong> den Grundschulen e<strong>in</strong>. Das neue Schulfach fasste<br />
die bisherigen Unterrichtsfächer „Sachunterricht“, „Musik“, „Kunst“ und „Textiles Werken“ zusammen und schaffte<br />
die zeitlichen Freiräume im Stundenplan, um die erste Fremdsprache „Englisch“ bereits im Primarbereich zu etablieren.<br />
Das eigenständige Fach Musik soll seitdem verstärkt fächerübergreifend unterrichtet werden. Die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
für den Musikunterricht <strong>in</strong> der Grundschule änderten sich dadurch <strong>in</strong> Baden-Württemberg jedoch maßgeblich. Von den<br />
Wirtschaftsverbänden geschürt, aber auch durch die zunehmende Verunsicherung der Eltern e<strong>in</strong>gefordert, f<strong>in</strong>det bereits<br />
<strong>in</strong> den Grundschulen e<strong>in</strong>e Ökonomisierung der <strong>Bildung</strong>s<strong>in</strong>halte statt. Nach dem Motto „<strong>Bildung</strong> ist, was man sich zu Geld<br />
machen lässt“ erfährt die gesamte <strong>Bildung</strong>slandschaft e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zum fremdsprachlich-naturwissenschaftlichen.<br />
Damit verbunden ist jedoch gleichzeitig e<strong>in</strong>e Abkehr vom ganzheitlichen Begriff der <strong>Bildung</strong>, der für den lebensbegleitenden<br />
Entwicklungsprozess des Menschen steht, bei dem er se<strong>in</strong>e geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten<br />
und se<strong>in</strong>e personalen und sozialen Kompetenzen erweitert. Die Auffassung, je früher man e<strong>in</strong>e Fremdsprache erlernt,<br />
desto besser, erweist sich jedoch nach aktueller Forschung zunehmend als Trugschluss, da die zweisprachige Erziehung<br />
im Elternhaus nicht mit dem Erlernen e<strong>in</strong>er Sprache <strong>in</strong> der Schule gleichgesetzt werden darf. Nach e<strong>in</strong>er Studie des Englischdidaktikers,<br />
Prof. He<strong>in</strong>er Boettger von der Katholischen Universität <strong>in</strong> Eichstätt, bemerken 95 Prozent der Lehrer am<br />
Ende der fünften Klasse ke<strong>in</strong>en signifikanten Unterschied zwischen Schülern mit oder ohne Vorwissen aus der Grundschule.<br />
Zwei Drittel der Pädagogen halten den Englischunterricht vor der fünften Klasse für überflüssig. Auch die neue<br />
baden-württembergische Kultusm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong>, Gabriele Warm<strong>in</strong>ski-Leitheußer (SPD) will nun die damalige Änderung reformieren.<br />
Gerade angesichts der vielen K<strong>in</strong>der mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund, für die bereits Deutsch die erste Fremdsprache<br />
<strong>in</strong> der Grundschule ist, will die Sprachkompetenz im Deutschen mehr Gewicht geben: „E<strong>in</strong>e weitere Fremdsprache über<br />
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