Immer noch der Zeit voraus - Universität Bremen
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In jenem Oktober 1966, als Freinet gestorben ist, habe ich die „Reifeprüfung“ abgelegt.<br />
Damals hatte we<strong>der</strong> ich <strong>noch</strong> irgendeiner meiner Lehrer etwas von Freinet gehört.<br />
Reif fühlte ich mich im Oktober ‚66 nicht, nur mit viel Wissen beladen, mit dem ich nichts anfangen<br />
konnte, und <strong>der</strong> vagen Vorstellung im Kopf, dass ich als Lehrerin alles ganz an<strong>der</strong>s machen würde.<br />
Im Studium erfuhr ich dann, dass die schmerzlichen Erfahrungen meiner Schulzeit vielerlei wissenschaftliche<br />
Namen hatten und zum System Schule dazugehörten, „systemimmanent“ waren.<br />
Vereinzelt musste ich da auch selbst bestimmt lernen, was ich aber nicht konnte! Ansonsten gab es<br />
auch hier Kullersysteme und ganz neu etwas zum Anfassen für Die Kin<strong>der</strong>: rote, dicke, raue Kreise.<br />
„Spielerische Mathematik“ mit kleinen, grünen, ebenfalls rauen Dreiecken statt Päckchenrechnen, das<br />
war Fortschritt, das begeisterte mich.<br />
Von Freinet war allerdings auch hier nichts zu hören und zu lesen.<br />
Dann endlich eigener selbstverantwortlicher Unterricht!<br />
<strong>Immer</strong>hin, Päckchenrechnen war out. Ich stürzte mich genauso wie die Kin<strong>der</strong> auf die bunten Formen<br />
im rechteckigen Karton, hielt den Eltern Vorträge über die Bedeutung <strong>der</strong> Mathematik im beson<strong>der</strong>en<br />
und den handelnden Umgang damit im speziellen, sortierte den Inhalt des Kartons nach klein und grün,<br />
und rot und glatt wobei die Kin<strong>der</strong> <strong>noch</strong> meine Begeisterung teilten -, sortierte die Klassengemeinschaft<br />
nach Kin<strong>der</strong>n mit Brille und ohne Brille was weniger Begeisterung hervorrief und ließ auf dem Fußboden<br />
Schlangen bilden, die sich von Plättchen zu Plättchen durch jeweils ein Merkmal unterschieden was<br />
dazu führte, dass Kin<strong>der</strong> ausprobierten, ob die grossen runden o<strong>der</strong> die kleinen runden schneller rollten.<br />
Von diesem <strong>Zeit</strong>punkt an versuchte ich mich „Wesentlicherem“ als <strong>der</strong> Mathematik zuzuwenden und<br />
bei meiner Rektorin Geld für ein bisschen Werkzeug und ein paar Stempelkästen locker zu machen.<br />
Just da hörte ich von einem Franzosen, <strong>der</strong> seinen Schülern gleich eine ganze Druckerei und ein<br />
Schmiede- und Schreineratelier zur Verfügung stellte.<br />
Genau, eine Druckerei, das wäre etwas für meine Schüler! Doch die Rektorin war nicht umzustimmen,<br />
Stempelkästen ja, Druckerei nein! War Freinet nicht dieser Kommunist?<br />
Ich lernte schnell .... nicht mehr Freinet-Pädagogik zu sagen, wenn ich etwas trollte, son<strong>der</strong>n „binnendifferenzierter<br />
Unterricht“.<br />
5 Jahre später ich hatte inzwischen längst eine Druckerei in meiner Klasse stehen und einige<br />
Freinettreffen im wie<strong>der</strong> gestärkten Rücken reiste ich mit einer Freinet-Freundin nach Frankreich, um<br />
Freinet-Pädagogik im Original zu erleben. Im Unterricht einer „educatrice Freinet militante“ (bezeichnet<br />
in Frankreich eine engagierte Freinetlehrerin) wurden wir dann, neben vielen an<strong>der</strong>en Eindrücken,<br />
Zeugen von Szene 2.<br />
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