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170 Reviews<br />
Aillet löst sich von Versuchen einer essentialistischen Beschreibung „mozarabischer<br />
Identität“ als statischer Wesenheit und betrachtet die erhaltenen Quellen<br />
vielmehr als Dokumente einer „situation mozarabe“, als Zeugnisse eines stetigen<br />
und dynamischen Abgrenzungsdiskurses, in dessen Zuge der Platz der „Mozaraber“<br />
in der sich wandelnden sozialen und kulturellen Ordnung des muslimisch<br />
beherrschten al-Andalus immer wieder aufs Neue bestimmt und durch Selbst- und<br />
Fremdkennzeichnung sichtbar gemacht wurde. Nicht die letztlich kontingenten<br />
Einzelstrategien in diesem Bemühen um identitäre Selbstpositionierung, sondern<br />
der Abgrenzungsdiskurs als solcher kennzeichnet so nach Aillets Verständnis<br />
das Mozarabertum in al-Andalus. Dieser Zugriff erlaubt es ihm, auch scheinbar widersprüchliche<br />
Ausdrucksformen mozarabischer Kultur überzeugend auf die ihnen<br />
gemeinsam zugrundeliegende „situation mozarabe“ zurückzuführen.<br />
Das erste Großkapitel des Werkes ist – nach der Erarbeitung der bereits hervorgehobenen<br />
„géographie évolutive“ (S. 45–93) christlicher Präsenz in al-Andalus<br />
– in seinem Kern der Auslotung dieser für das Mozarabertum konstitutiven<br />
Abgrenzungen gewidmet. Aillet zeigt hier die Problematik starrer Kategoriebildungen<br />
zur Beschreibung der gesellschaftlichen Konstellationen im früh- und<br />
hochmittelalterlichen al-Andalus auf. Die in den arabischen Quellen belegte Differenzierung<br />
etwa zwischen muwalladun, musalima, mawali oder ^apab erweist<br />
sich bei näherer Prüfung als kontextabhängig und verliert damit ihre analytische<br />
Trennschärfe. Aillet richtet seinen Blick daher auf die diskursiven Prozesse, innerhalb<br />
derer diese wandelbaren Kategoriebildungen der Quellen ihre Funktion<br />
erfüllten, und gelangt so zu einer Bestandsaufnahme der kulturelle und insbesondere<br />
religiöse Identität konstituierenden Grenzen innerhalb der andalusischen<br />
Gesellschaft (S. 95–127). Es gehört zu den kulturhistorisch anregendsten Passagen<br />
des ganzen Buches, wenn Aillet diesen definierenden „Grenzen“ des Mozarabertums<br />
bis hinein in das noch junge Feld der Körpergeschichte nachgeht.<br />
Das zweite Großkapitel des Buches konzentriert sich dann – entsprechend<br />
der von Aillet gewählten Definition des „Mozarabertums“ über sprachliche Akkulturationsprozesse<br />
– auf die Untersuchung speziell der linguistischen Grenzziehung<br />
zwischen Latinität und Arabisierung unter den andalusischen Christen.<br />
Aillet gelangt dabei zu einer bedeutenden Neueinschätzung: Wurde das weitgehende<br />
Versiegen lateinischer Schriftlichkeit in al-Andalus nach den 860er Jahren<br />
bislang zumeist als Beleg für den Verlust kulturell-sprachlicher Tradition und<br />
der fortschreitenden Arabisierung der „Mozaraber“ gewertet, kann Aillet auf<br />
Grundlage einer überzeugenden Neudatierung zahlreicher Handschriften das<br />
Fortbestehen der Latinität in Form einer sektoriell differenzierten Zweisprachigkeit<br />
aufzeigen: Die Beherrschung des Lateinischen ging in al-Andalus keineswegs<br />
verloren, reduzierte sich aber auf den religiös-kultischen Kontext und wurde damit<br />
ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts regelrecht zu einem Symbol christ-