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Kirche als Bewegung? Das Pontifikat Johannes Pauls II.<br />

Petrusbrief 2,9-10). Aber auf diesem langen<br />

Marsch durch die Geschichte bezieht sie sich<br />

stets auf die Gesamtheit der Menschen, nicht<br />

bloß auf wenige religiöse Virtuosen, Asketen,<br />

Märtyrer und Heilige. Die Nachfolge Christi<br />

bedeutet für die zur Anstalt gewordene Kirche<br />

also keine Weltflucht, sondern Weltgewinn,<br />

Transformation der im Lichte des Evangeliums<br />

neu gedeuteten Wirklichkeit; sie fällt mit einem<br />

innerweltlich relevanten Zeugnis der Heilsbotschaft<br />

zusammen.<br />

Zur weltweiten und gegenüber den Mächten<br />

der Welt aus eigener Macht autonomen Institution<br />

wurde die katholische Kirche freilich erst<br />

sehr viel später: Mit der „päpstlichen Revolution“<br />

des 11. Jahrhunderts – und mit der katholischen<br />

Gegenrevolution des 19. Jahrhunderts.<br />

Im Investiturstreit verteidigten Papst Gregor VII.<br />

und seine Nachfolger die libertas ecclesiae, die<br />

Selbstgesetzgebung der zölibatären Klerikerkirche,<br />

auch gegen die Machtansprüche christlicher<br />

Kaiser und Könige. Die kirchlichen Eliten<br />

stabilisierten eigene Mitgliedschaftsregeln und<br />

Rekrutierungsmodi, eine eigene Jurisdiktion,<br />

deren Legitimität und geographische Reichweite<br />

nicht durch die weltliche Gewalt christlicher<br />

Souveräne gebunden ist. Und erst durch diese<br />

Autonomie der geistlichen Instanz – mit und<br />

aufgrund der sozialen und institutionellen Verselbständigung<br />

der religiösen Sphäre – wird in<br />

der Christenheit des Westens auch die ,weltliche‘<br />

Sphäre freigesetzt.<br />

Konnten Imperium und Sacerdotium in Europa<br />

noch bis zur Reformation in antagonistischer<br />

Kooperation koexistierten, so stellte sich<br />

das Problem einer weltweiten institutionellen<br />

Fassung des katholischen Universalismus im<br />

19. Jahrhundert völlig neu: mit dem Zusammenbrechen<br />

der christlichen Reiche nach der<br />

französischen Revolution wird nämlich der Nationalstaat<br />

zur bestimmenden Gestalt politischer<br />

Souveränität in Europa. Nun kann auch die<br />

Papstkirche nicht mehr nach dem frühneuzeitlichen<br />

Modell eines zwischen den katholischen<br />

Mächten abgestimmten römischen Überbaus<br />

über die episkopalen Netzwerke der christlichen<br />

Monarchien, ihrer Kolonien und Einflusssphären<br />

funktionieren. Jetzt bekommt die Weltkirche<br />

ein Verfassungsproblem; aber die Papstkirche<br />

erlebt den Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts<br />

ausschließlich als Feind: ebenso im<br />

Verhältnis zwischen katholischer Kirche und<br />

liberaler Moderne wie im Widerspruch zwischen<br />

dem kirchlichem Universalauftrag und dem unaufhaltsamen<br />

Sieg des Nationalgedankens in<br />

Europa.<br />

Im Gegenzug zur politischen Erosion der<br />

politischen Stabilität des Mitteleuropa der „Heiligen<br />

Allianz“ gelingt es dem Papsttum jedoch,<br />

die Una sancta ideologisch zu reorientieren und<br />

organisatorisch zu zentralisieren: Auf die liberale<br />

Aufklärung antwortet Pius IX. mit dem Syllabus<br />

errorum (1864), der berüchtigten Liste<br />

von 80 „Irrtümern der Zeit“ im Anhang seiner<br />

Enzyklika „Quanta cura“: einer intransigenten<br />

Ablehnung jeglichen Kompromisses mit liberalem<br />

Staat und aufklärerischer Weltanschauung.<br />

Auf das italienische Risorgimento antwortet<br />

das Erste Vatikanische Konzil (1869/70), das<br />

die geistliche Universalmonarchie des Bischofs<br />

von Rom durch einen bis dato unbekannten rigiden<br />

Zentralismus noch übersteigerte und<br />

überdies theologisch dogmatisierte.<br />

3. Intransigenz und Moderne<br />

Die erste effektive Internationalisierung der katholischen<br />

Kirche, die mit dem I. Vaticanum zu<br />

ihrem Gesetz wird, war also eine konservative<br />

Revolution – oder auch (je nach Einstellung)<br />

eine reaktionäre Machtergreifung der „ultramontanen<br />

Partei“. Intra muros ecclesiae siegte zwar<br />

ein theologisch (neo)konservativer römischer<br />

Zentralismus über alle Versuchungen zu einem<br />

,liberalen‘ oder nationalen Katholizismus. Doch<br />

diese zentralistische Reorganisation des innerkirchlichen<br />

Regiments war eben nicht nur eine<br />

autoritäre Kompensation für den Machtverlust<br />

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