Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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das sich in einer politischen Kultur auf eine gemeinsame<br />
Verfassung bezieht.<br />
Politische Theorie in der Bundesrepublik<br />
lässt sich bisher wenig auf eine derartige Fragestellung<br />
ein. Schmalz-Bruns (2002), der ebenfalls<br />
in kritischer Distanz zu Habermas’ Ansatz<br />
deliberative Demokratie reflektiert, analysiert<br />
europäische Identitätsbildung wie Eder in ihren<br />
multikulturellen Aspekten. Indem die Menschen<br />
in den verschiedenen Suböffentlichkeiten mit<br />
anderen Kulturen kooperierten, sammelten sie<br />
jene transkulturellen Erfahrungen, die ihnen, so<br />
der Autor, auch in der politischen Problemlösung<br />
einen reflexiven Umgang mit den Ansprüchen<br />
aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten<br />
ermöglichten.<br />
Die demokratietheoretisch entscheidende<br />
Frage zur EU lautet jedoch nicht, ob sich zwischen<br />
unterschiedlichen kulturellen Gruppen<br />
überhaupt Verständigung und gemeinsame kollektive<br />
Identitäten ausbilden können. Sicherlich<br />
können sie das. Auch Schmalz-Bruns lehnt sich<br />
in seiner Argumentation eng an Dewey’s Arbeit<br />
zu Öffentlichkeiten an. Doch ein interkulturelles<br />
Kommunikationsverständnis, das im Pragmatismus<br />
seinen Ursprung findet, ist in der Diskurstheorie<br />
sowie im postcolonial discourse weit<br />
systematischer entfaltet worden (z.B. Benhabib<br />
2002). Strategische Kooperationen in der Zivilgesellschaft<br />
können Beziehungen zwischen unterschiedlichen<br />
Nationen und Kulturen initiieren,<br />
die das Wissen und ein Verständnis für die<br />
Unterschiede zwischen den Gemeinschaften<br />
fördern und zu wechselseitigen Verpflichtungen<br />
führen. Nur entsteht dabei noch kein Selbstverständnis<br />
von einer übergreifenden demokratischen<br />
Inklusion.<br />
Offen bleibt, wie eine auf bloße Kooperation<br />
angelegte interkulturelle Erfahrung ein normativ<br />
anspruchsvolles politisches Zugehörigkeitsbewusstsein<br />
nähren kann, das auch die<br />
Bereitschaft zur Selbstverpflichtung gegenüber<br />
einem übergreifenden Kollektiv erzeugt, obgleich<br />
eine gemeinsame politische Kultur und<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 17, 4/2004<br />
ein eindeutiger demos fehlen. Die in der politischen<br />
Theorie bisher nicht zu Ende gedachte<br />
Frage ist, in welcher Formation von Identitäten<br />
die politische Integration – nicht kultureller<br />
Gruppen sondern souveräner Staaten respektive<br />
demoi mit divergierenden Demokratieverständnissen<br />
und politischen Kulturen gefestigt<br />
werden kann. Die nationalen Varianten des Bewusstseins<br />
‚wir Briten (Polen/ Italiener etc.) in<br />
der EU’, werden aufgrund der nationalen<br />
Souveränitätsansprüche nicht so ohne weiteres<br />
in ein Gemeinschaftsgefühl münden, das alle<br />
Menschen in der EU gleichermaßen umfasst.<br />
Darin unterscheiden sich diese Selbstverständnisse<br />
von einer nationalen Identität und von einer<br />
US-amerikanischen Identität, aus der das<br />
Bewusstsein eines multination state erfolgreich<br />
verbannt worden ist.<br />
Diversity Awareness<br />
Der kanadische Politikwissenschaftler Tully<br />
konzipiert kollektive Identitäten als eine diversity<br />
awareness zwischen den Nationen (1994).<br />
Er ist von der konstitutiven Rolle der Kommunikation<br />
für kulturelle Prozesse zutiefst überzeugt<br />
und argumentiert bei aller Abgrenzung von<br />
der Diskurstheorie immer wieder bis dicht an<br />
deren Annahmen heran. Unterschiede sind für<br />
Tully immer schon kulturelle Unterschiede, die<br />
potentiell verstehbar sind, da Kulturen aus der<br />
interkulturellen Kommunikation hervorgehen.<br />
Tully thematisiert nicht einfach die Potentiale<br />
der Verständigung über kulturelle Differenzen.<br />
Vielmehr analysiert er, wie sich souveräne<br />
Nationen über ihre jeweilige Geschichte der<br />
Selbstbestimmung (self-rule) verständigt haben.<br />
Bei den historischen Beispielen betrachtet er vor<br />
allem jene Integrationsaspekte, die heute in ausdifferenzierten<br />
politischen Kulturen entfaltet<br />
werden. In seiner Untersuchung der Sprache<br />
der Verträge, die über Jahrhunderte hinweg<br />
zwischen nordamerikanischen Nationen geschlossen<br />
worden waren, erläutert er, wie kanadische<br />
First Nations eine friedliche Koexistenz