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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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94<br />

das sich in einer politischen Kultur auf eine gemeinsame<br />

Verfassung bezieht.<br />

Politische Theorie in der Bundesrepublik<br />

lässt sich bisher wenig auf eine derartige Fragestellung<br />

ein. Schmalz-Bruns (2002), der ebenfalls<br />

in kritischer Distanz zu Habermas’ Ansatz<br />

deliberative Demokratie reflektiert, analysiert<br />

europäische Identitätsbildung wie Eder in ihren<br />

multikulturellen Aspekten. Indem die Menschen<br />

in den verschiedenen Suböffentlichkeiten mit<br />

anderen Kulturen kooperierten, sammelten sie<br />

jene transkulturellen Erfahrungen, die ihnen, so<br />

der Autor, auch in der politischen Problemlösung<br />

einen reflexiven Umgang mit den Ansprüchen<br />

aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten<br />

ermöglichten.<br />

Die demokratietheoretisch entscheidende<br />

Frage zur EU lautet jedoch nicht, ob sich zwischen<br />

unterschiedlichen kulturellen Gruppen<br />

überhaupt Verständigung und gemeinsame kollektive<br />

Identitäten ausbilden können. Sicherlich<br />

können sie das. Auch Schmalz-Bruns lehnt sich<br />

in seiner Argumentation eng an Dewey’s Arbeit<br />

zu Öffentlichkeiten an. Doch ein interkulturelles<br />

Kommunikationsverständnis, das im Pragmatismus<br />

seinen Ursprung findet, ist in der Diskurstheorie<br />

sowie im postcolonial discourse weit<br />

systematischer entfaltet worden (z.B. Benhabib<br />

2002). Strategische Kooperationen in der Zivilgesellschaft<br />

können Beziehungen zwischen unterschiedlichen<br />

Nationen und Kulturen initiieren,<br />

die das Wissen und ein Verständnis für die<br />

Unterschiede zwischen den Gemeinschaften<br />

fördern und zu wechselseitigen Verpflichtungen<br />

führen. Nur entsteht dabei noch kein Selbstverständnis<br />

von einer übergreifenden demokratischen<br />

Inklusion.<br />

Offen bleibt, wie eine auf bloße Kooperation<br />

angelegte interkulturelle Erfahrung ein normativ<br />

anspruchsvolles politisches Zugehörigkeitsbewusstsein<br />

nähren kann, das auch die<br />

Bereitschaft zur Selbstverpflichtung gegenüber<br />

einem übergreifenden Kollektiv erzeugt, obgleich<br />

eine gemeinsame politische Kultur und<br />

<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 17, 4/2004<br />

ein eindeutiger demos fehlen. Die in der politischen<br />

Theorie bisher nicht zu Ende gedachte<br />

Frage ist, in welcher Formation von Identitäten<br />

die politische Integration – nicht kultureller<br />

Gruppen sondern souveräner Staaten respektive<br />

demoi mit divergierenden Demokratieverständnissen<br />

und politischen Kulturen gefestigt<br />

werden kann. Die nationalen Varianten des Bewusstseins<br />

‚wir Briten (Polen/ Italiener etc.) in<br />

der EU’, werden aufgrund der nationalen<br />

Souveränitätsansprüche nicht so ohne weiteres<br />

in ein Gemeinschaftsgefühl münden, das alle<br />

Menschen in der EU gleichermaßen umfasst.<br />

Darin unterscheiden sich diese Selbstverständnisse<br />

von einer nationalen Identität und von einer<br />

US-amerikanischen Identität, aus der das<br />

Bewusstsein eines multination state erfolgreich<br />

verbannt worden ist.<br />

Diversity Awareness<br />

Der kanadische Politikwissenschaftler Tully<br />

konzipiert kollektive Identitäten als eine diversity<br />

awareness zwischen den Nationen (1994).<br />

Er ist von der konstitutiven Rolle der Kommunikation<br />

für kulturelle Prozesse zutiefst überzeugt<br />

und argumentiert bei aller Abgrenzung von<br />

der Diskurstheorie immer wieder bis dicht an<br />

deren Annahmen heran. Unterschiede sind für<br />

Tully immer schon kulturelle Unterschiede, die<br />

potentiell verstehbar sind, da Kulturen aus der<br />

interkulturellen Kommunikation hervorgehen.<br />

Tully thematisiert nicht einfach die Potentiale<br />

der Verständigung über kulturelle Differenzen.<br />

Vielmehr analysiert er, wie sich souveräne<br />

Nationen über ihre jeweilige Geschichte der<br />

Selbstbestimmung (self-rule) verständigt haben.<br />

Bei den historischen Beispielen betrachtet er vor<br />

allem jene Integrationsaspekte, die heute in ausdifferenzierten<br />

politischen Kulturen entfaltet<br />

werden. In seiner Untersuchung der Sprache<br />

der Verträge, die über Jahrhunderte hinweg<br />

zwischen nordamerikanischen Nationen geschlossen<br />

worden waren, erläutert er, wie kanadische<br />

First Nations eine friedliche Koexistenz

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