23.10.2013 Aufrufe

Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

86<br />

FORSCHUNGSBERICHT<br />

....................................................................................................................................<br />

Geburtshelfer oder Jungbrunnen?<br />

Das Verhältnis von Religion und sozialer<br />

Bewegung am Beispiel der DDR-<br />

Friedensbewegung<br />

„Eigentlich kannst du, wenn du Friedensarbeit<br />

machst, kannst du eigentlich, wenn du kritisch<br />

hinguckst nur den Strick nehmen (hm) weil’s<br />

eigentlich ziemlich sinnlos ist – kurzfristig gesehen.“<br />

(Frau D: 727ff) 1 Man muss nicht gleich<br />

des Lebens müde werden ob der, auf den ersten<br />

Blick, Vergeblichkeit des Engagements. Den<br />

Strick zu nehmen kann ja metaphorisch auch<br />

bedeuten, den Vorhang der politischen Bühne<br />

zu schließen, abzutreten und sich fortan dem<br />

privaten Glück zu widmen. Das Zitat aus einem<br />

der biographischen Interviews führt aber<br />

unversehens zu Albert Camus. Der Selbstmord<br />

sei eine Grundfrage der Philosophie, so heißt<br />

es bei ihm, geht es doch darum, ob sich das<br />

Leben lohne (Camus 1997: 10ff) oder eben der<br />

Kampf gegen das Elend der Welt. Seine Antwort<br />

ist die Mythenfigur des Sisyphos, der verdammt<br />

wurde zum aussichtlosen Kampf gegen<br />

den Gipfel des Berges. Aussichtslos, da der<br />

mühsam hinaufgewuchtete Stein unablässig<br />

wieder herunterrollt. Und doch sei Sisyphos in<br />

diesem vergeblichen Tun eigentümlich glücklich.<br />

In meiner Magisterarbeit, mit dem Titel<br />

„Engagement trotz Enttäuschung. Eine biographieanalytische<br />

Untersuchung von Triebkräften<br />

gesellschaftlicher Veränderung“ habe ich<br />

mich der Beantwortung dieser Frage explorativ<br />

genähert: Was veranlasst Menschen, allen Enttäuschungen<br />

und Rückschlägen zum Trotz, in<br />

einem bestimmten Segment sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />

über Jahrzehnte hinweg aktiv zu bleiben?<br />

In narrativ-biographischen Interviews wurden<br />

8 Oppositionelle aus der unabhängigen kirchlichen<br />

DDR-Friedensbewegung befragt 2 , die heute<br />

noch aktiv sind, über den 1989er Zeitenbruch<br />

hinaus. Die Ärztin, der Pfarrer, der Kraftfahrer<br />

<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 17, 4/2004<br />

uvm. sie alle haben zu DDR-Zeiten, durchaus<br />

in verschiedene Richtungen, an jenem Stein geschoben,<br />

der Ende der 1980er ins Rollen kam<br />

und 1989 ihnen völlig den Händen entglitt. 3 An<br />

unterschiedlicher Stelle haben Sie das Steinwälzen<br />

fortgesetzt, in der Arbeit mit Langzeitarbeitslosen,<br />

dem Einsatz für Frieden auf dem<br />

Balkan oder in der Fortführung des ältesten noch<br />

aktiven Friedensseminars der DDR.<br />

Fokussiert auf das Thema des Heftes, werde<br />

ich im folgenden speziell die Funktion der<br />

christlichen Religion für den Beginn und vor<br />

allem für die Langlebigkeit dieses Engagements<br />

in aller Kürze darzustellen versuchen.<br />

Initiativimpulse<br />

Christian Smith zufolge ist die Religion die<br />

„midwife“, die Hebamme sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />

(Smith 1996: 16). Diese einfühlsame Zuschreibung<br />

wird Sie sich aber in meinem Fall<br />

mit dem SED-Staat teilen müssen. Inmitten der<br />

„Integrierten Generation“ (Lindner 2003: 35ff)<br />

der um 1945 bis 1960 Geborenen, die besonders<br />

fest und nachhaltig in der DDR verwurzelt war,<br />

schuf die DDR mit ihrer zunächst ausgrenzenden<br />

Kirchenpolitik ein distanziertes christliches<br />

Protestmilieu. Als Beispiel sei Herr A. zitiert:<br />

„Also den Zehnjahresabschluss zu machen, das<br />

war nicht möglich weil ich konfirmiert worden<br />

bin.“ (Herr A: 18f) Diese Benachteiligungserfahrungen<br />

sind allen Interviewten gemeinsam.<br />

Am Beginn des Engagements steht also ein<br />

staatlich provozierter „Abstoßungseffekt“<br />

(Hirschman 1988: 88). Diese Distanz wiederum<br />

wird in den meisten biographischen Texten verstärkt<br />

durch das DDR-kritische kirchliche Umfeld.<br />

Wo wird aber der Beginn des Engagements<br />

verortet? Hier lassen sich zwei idealtypische<br />

Initiativimpulse unterscheiden und geschlechtspezifisch<br />

zuordnen.<br />

Die Männer werden in ihrer Rolle als Staatsbürger<br />

konfrontiert mit der Entscheidung sich<br />

zur NVA anwerben zu lassen oder aber mit der<br />

Einführung der Wehrpflicht 1961 den Wehr-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!