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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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Der Sektenkomplex<br />

befürchten, auch mit ihren Angeboten unter die<br />

Neuregelungen zu fallen.<br />

Bemerkenswert auch dies: Als der Deutsche<br />

Bundestag in der letzten Legislaturperiode ein<br />

Antidiskriminierungsgesetz beriet, war die Evangelische<br />

Kirche mit dem geplanten Verbot religiöser<br />

Diskriminierung nicht einverstanden und<br />

beharrte auf einem Sonderstatus (Neues<br />

Deutschland vom 29.05.2002). Anscheinend<br />

fürchtete man, dass ein solches Gesetz die Arbeit<br />

kirchlicher Sektenbeauftragter erschweren<br />

würde.<br />

In einer global offenen Gesellschaft gelingt<br />

es religiösen Gemeinschaften heute nicht mehr,<br />

selbstevidente Wahrheiten in abgeschotteten<br />

kulturellen Kontexten zu vertreten. Vielmehr stehen<br />

ihre jeweiligen Wahrheitsansprüche mit denen<br />

anderer Glaubensgemeinschaften im Wettbewerb<br />

(Leggewie 2001: 21f). Dies betrifft in<br />

besonderem Maße die christlichen Kirchen, die<br />

innerhalb einer pluralisierten Religionslandschaft<br />

nur noch als primi inter pares herausragen<br />

(Leggewie 2001: 24).<br />

Die Intention des pluralisierungskritischen<br />

Diskurses, durch eine öffentliche Pathologisierung<br />

die Mitgliedschaft in einer neureligiösen<br />

Bewegung als zerstörerischen Irrweg hinzustellen,<br />

zielt in letzter Konsequenz darauf<br />

ab, die Option der freien Wahl zwischen religiösen<br />

Alternativen zu delegitimieren (Seiwert<br />

2004: 88). Es sind deshalb auch nicht die einzelnen<br />

‚Sekten’ an sich, die die kirchliche Dominanz<br />

bedrohen, sondern es ist die Vorstellung,<br />

dass alle Religionen prinzipiell gleichwertig<br />

sind und allen Menschen als Optionen<br />

offen stehen (Seiwert 2004: 87). Erst die Wahlmöglichkeit<br />

zwischen einer Vielzahl von Sinnangeboten<br />

nämlich bedroht den Status Quo der<br />

althergebrachten religiösen Ordnung und sie<br />

irritiert, so darf hinzugefügt werden, zugleich<br />

jene gesellschaftlichen Gruppen, die auf die<br />

eine oder andere Art auf diese Ordnung bezogen<br />

sind. Deshalb muss der Bevölkerung die<br />

Urteilskraft abgesprochen werden, in Sachen<br />

83<br />

Religion für sich selber sorgen zu können, wie<br />

der Religionssoziologe Hubert Seiwert bemerkt<br />

(Seiwert 2004: 90f).<br />

Der pluralisierungskritische Diskurs<br />

schweißt Interessengruppen zusammen, die<br />

sonst eher entgegengesetzten Lagern angehören,<br />

darunter linke Medienvertreter, Sozialdemokraten<br />

und die Verfechter eines aufgeklärten<br />

Säkularismus, die sich zwar notgedrungen mit<br />

dem Vorhandensein gezähmter Volkskirchen arrangiert<br />

haben, denen sonst aber alles Religiöse<br />

ein Gräuel ist. Sie agieren im Verein mit Konservativen,<br />

Theologen und den Sachwaltern des<br />

staats-kirchlichen Status Quo, die dafür kämpfen,<br />

dass die noch vorhandenen Reste des volkskirchlichen<br />

Einflusses nicht noch weiter erodieren<br />

und die Gesellschaft in einen aus ihrer<br />

Sicht undifferenzierten Laizismus abgleitet.<br />

Die Delegitimierung der freien Entscheidungswahl<br />

des Individuums kann vielleicht noch<br />

eine Zeit lang die Fiktion aufrecht erhalten, dass<br />

es auf dem Gebiet des Religiösen nur Kirchenmitgliedschaft,<br />

vielleicht gerade noch die Partizipation<br />

an einer der anderen sog. Weltreligionen,<br />

schließlich noch Religionslosigkeit, sonst<br />

aber weiter nichts geben kann. Das Rad der<br />

Religionsgeschichte lässt sich jedoch nicht mehr<br />

zurückdrehen. Deshalb gilt für den Prozess der<br />

religiös-weltanschaulichen Pluralisierung insgesamt,<br />

was Claus Leggewie mit Blick auf die<br />

Präsenz des Islam in Deutschland so formuliert:<br />

„Die religiös-politische Achse dreht sich<br />

... weg von der fiskalischen, sozial- und bildungspolitischen<br />

Bevorzugung der christlichen<br />

Konfessionen hin zur marktförmigen Koexistenz<br />

aller möglichen Bekenntnisse“ (Leggewie<br />

2001: 26).<br />

Es genügt aber nicht, das Faktum der religiösen<br />

Pluralität lediglich zu benennen. Vielmehr<br />

ist ein gesellschaftlicher Lernprozess erforderlich,<br />

der einen angemessenen Umgang mit diesem<br />

Faktum einübt. Auch von den minoritären<br />

Religionsgemeinschaften darf dabei erwartet<br />

werden, dass sie sich an diesem Lernprozess

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