Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Religion und soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
werden, also Praktiken wie Gebet oder Gottesdienst<br />
oder Vorstellungen über ein göttliches<br />
Gericht oder ein Leben nach dem Tod (vgl. Beckford<br />
2001: 235). Des Weiteren kann man aber<br />
auch nach funktionalen Äquivalenten oder nach<br />
strukturellen Analogien religiöser Praktiken und<br />
Vorstellungswelten fahnden. In einer solchen<br />
Perspektive ließe sich eine religiöse Dimension<br />
etwa in der Beförderung von letzten oder universalen<br />
Werten bzw. der Thematisierung von<br />
letzten Fragen, in der utopischen Energie, aber<br />
auch in der apokalyptischen Dramatisierung<br />
sozialer oder politischer Probleme sowie in der<br />
Anlage politischer Kampagnen als moralische<br />
Kreuzzüge, als endzeitliche Auseinandersetzung<br />
zwischen Gut und Böse, erkennen (vgl. u.a.<br />
Beckford 1993: 27; 2001: 235, 242; Hannigan<br />
1991: 326; Melucci 1985: 811-812). Ein solcher<br />
Aufweis von Ähnlichkeiten und Differenzen<br />
von Charakteristika sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
zu einzelnen Elementen konventioneller bzw.<br />
kulturell vertrauter religiöser Praktiken und Vorstellungswelten<br />
trägt zu einer grundsätzlichen<br />
Beantwortung der Frage nach den religiösen<br />
Dimensionen jedoch wenig bei.<br />
Vielversprechender ist ein abstrakterer Zugang<br />
über eine Definition von Religion und religiösen<br />
Phänomenen, die nicht zuletzt die Veränderungen<br />
des Religiösen und seine beständige<br />
Aushandlung und Neudefinition in der und<br />
durch die soziale Praxis zu berücksichtigen vermag.<br />
Jüngere Versuche einer solchen konzeptionellen<br />
Fassung unterscheiden zwischen Religion<br />
im engeren und Spiritualität im weiteren<br />
Sinne: „They both refer to levels of meaning<br />
and significance which go beyond the surface<br />
appearance of everyday realities. They both point<br />
to the possibility that ostensibly routine takenfor-granted,<br />
matter-of-fact phenomena may conceal<br />
deeper or higher levels of reality. Spiritual<br />
insights convey a sense of the ultimate significance<br />
of things, often creating the impression<br />
that human life is part of a comprehensive, timeless<br />
scheme” (Beckford 2001: 240). Im Unter-<br />
37<br />
schied zu einer spirituellen zeichnet sich eine<br />
religiöse Vorstellungswelt durch die Überzeugung<br />
aus, dass übernatürliche oder übermenschliche<br />
Kräfte für die letzte Bedeutung von Dingen<br />
verantwortlich sind.<br />
Die Ergänzung des Religionsverständnisses<br />
um die Dimension der Spiritualität weist auf<br />
das hin, worin viele Religionssoziologen eine<br />
entscheidende Veränderung der Religion in westlichen<br />
Gesellschaften sehen: auf eine ‚Wiederverzauberung‘<br />
der Welt, die nicht in einer Rückkehr<br />
zu hergebrachten religiösen Traditionen<br />
besteht, sondern auf einem neuen spirituellen<br />
Verhältnis zu Welt und Selbst beruht, das<br />
keineswegs mehr randständig ist, sondern dessen<br />
Elemente inzwischen weit in die Mitte der<br />
Gesellschaften vorgedrungen sind (Partridge<br />
2004: 46, 51). Diese neue Spiritualität, die mal<br />
als ,Veröstlichung des Westens‘ (Campbell<br />
1999), mal als Wiederbelebung einer genuin<br />
westlichen esoterischen oder mystischen Tradition<br />
(Melton 2004: 23-24) rekonstruiert wird,<br />
wird in der Regel durch folgende Elemente charakterisiert:<br />
durch eine immanente, ganzheitliche<br />
Vorstellung des Zusammenhangs von Selbst,<br />
Welt und Kosmos, die Dualismen wie diejenigen<br />
von Gott und Mensch, Mensch und Natur,<br />
Körper und Geist nicht kennt; durch die Überzeugung<br />
von der grundsätzlichen individuellen<br />
wie kollektiven Erfahrbarkeit dieser Einheit<br />
(und gegebenenfalls ihres göttlichen Grundes),<br />
aber auch von der für solche Erfahrungen notwendigen<br />
(therapeutischen) Transformation von<br />
Selbst und Bewusstsein; durch die Skepsis gegenüber<br />
einer wissenschaftlichen Weltsicht,<br />
ohne jedoch in direktem Widerspruch zu ihr zu<br />
geraten. Diese Spiritualität ist darüber hinaus<br />
relativistisch, synkretistisch und tolerant und<br />
vermag sich daher auch neben oder in etablierten<br />
religiösen Traditionen festzusetzen (vgl. u.a.<br />
Campbell 1999; Partridge 2004).<br />
Es ist diese Dimension einer neuen spirituellen<br />
Weltsicht sowie der mit ihr verbundenen<br />
Praktiken, die sich nicht zuletzt bei Teilen der