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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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28<br />

Ulrich Willems<br />

Religion und soziale <strong>Bewegungen</strong> – Dimensionen eines Forschungsfeldes<br />

1 Die Renaissance der Religion<br />

Der sozialwissenschaftliche ‚common sense‘<br />

hat den unaufhaltsamen Niedergang oder gar<br />

das völlige Verschwinden der Religion erwartet.<br />

Doch spätestens seit dem Ende der 1970er<br />

Jahre – mit der Revolution im Iran (im ‚Süden‘)<br />

und der Formierung der christlichen Rechten in<br />

den USA (im ‚Norden‘) – hat sich Religion<br />

sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch<br />

im sozialwissenschaftlichen Diskurs als Faktor<br />

der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit<br />

zurückgemeldet. Diese beiden Schlüsselereignisse<br />

einer Rückkehr der Religion fanden<br />

zusammen mit der weltweiten islamistischen<br />

Mobilisierung ihren sozialwissenschaftlichen<br />

Ausdruck zunächst in Form einer Flut von Analysen<br />

zum religiösen Fundamentalismus (vgl.<br />

pars pro toto Marty/Appleby 1991-1995).<br />

Seitdem haben sich jedoch die Fälle einer<br />

Revitalisierung der Religion und ihrer Rolle als<br />

politische und gesellschaftliche Kraft erheblich<br />

vermehrt. Sie lassen sich zudem nicht mehr alle<br />

umstandslos in das Prokrustesbett der Formel<br />

vom gegenmodernen religiösen Fundamentalismus<br />

zwingen. Hier seien nur einige wenige<br />

Beispiele angeführt: die rapide wachsenden<br />

pfingstlerischen und prophetischen <strong>Bewegungen</strong><br />

im Christentum Afrikas und Lateinamerikas,<br />

das überraschende come-back der orthodoxen<br />

Kirchen im postkommunistischen Osteuropa,<br />

die wachsende Bedeutung religiöser<br />

Identität für viele aus den jüngeren Generationen<br />

nicht-christlicher Migranten und Einwohner<br />

in Europa (Beckford 2001: 229) sowie die<br />

nicht unerhebliche Rolle, die religiöse Institutionen<br />

und Akteure bei der Öffnung totalitärer<br />

und autoritärer Regime in Osteuropa und Lateinamerika<br />

gespielt haben (Wood 1999: 307),<br />

<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 17, 4/2004<br />

und das weltweit verstärkte öffentliche Engagement<br />

von Kirchen und kirchlichen Organisationen,<br />

das Jose Casanova (1994) auf den Begriff<br />

der ‚Deprivatisierung‘ der Religion brachte. Diese<br />

religiöse Vitalisierung hat zusammen mit der<br />

zunehmenden religiösen Pluralisierung in vielen<br />

Teilen der Welt einerseits Debatten über die<br />

Kriterien und die konkrete Ausgestaltung einer<br />

‚gerechten‘ religionspolitischen Verfassung kulturell<br />

und religiös pluraler Gesellschaften ausgelöst.<br />

Andererseits lassen sich vielerorts Versuche<br />

mehrheitsreligiöser Traditionen beobachten,<br />

eine privilegierte gesellschaftliche und politische<br />

Stellung (wieder) zu erlangen und der<br />

religiösen Konkurrenz den Marktzutritt zu erschweren.<br />

2 Religion: blinder Fleck der<br />

Bewegungsforschung<br />

In den Sozialwissenschaften insgesamt hat der<br />

Umstand, dass Religion nach wie vor eine zentrale<br />

Rolle in Prozessen der Identitätsformation,<br />

der sozialen Inklusion und der Vergemeinschaftung<br />

spielt (Beckford 2001: 230), dass religiöse<br />

Organisationen und <strong>Bewegungen</strong> sich<br />

als Akteure des politischen Prozesses zurückgemeldet<br />

haben und dass die religionspolitische<br />

Verfassung von Gesellschaften auf der politischen<br />

und öffentlichen Agenda einen prominenten<br />

Platz einnimmt, seinen Ausdruck in einem<br />

neu erwachten Interesse an der Religion<br />

gefunden.<br />

Dies gilt nicht oder doch zumindest nicht in<br />

gleichem Maß für die Erforschung sozialer <strong>Bewegungen</strong>.<br />

Obwohl viele der gerade beschriebenen<br />

Phänomene einer Revitalisierung der<br />

Religion die soziale Gestalt von ‚<strong>Bewegungen</strong>’

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