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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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32<br />

spiele für die ‚Renaissance‘ des Religiösen zeigen<br />

– keineswegs mit der Erosion von Religiosität<br />

insgesamt verwechselt werden darf). Denn<br />

diese Erosion organisierter Religiosität in Form<br />

etwa des Mitgliederverlustes der verfassten Kirchen<br />

befördert die Nutzung von Religion als<br />

kultureller Ressource, weil der Bedeutungsverlust<br />

und die Schwächung religiöser Organisationen<br />

auch ihr Interpretationsmonopol erodiert.<br />

Religiöse Symbole, Bedeutungen und Werte<br />

werden dadurch gleichsam dereguliert und ausbeutbarer<br />

(Beckford 2001: 232).<br />

Aber auch die Charakterisierung von Religion<br />

und religiösen <strong>Bewegungen</strong> als traditionalistisch<br />

und/oder gegenmodern erweist sich als<br />

nicht haltbar. Empirisch lässt sich zunächst darauf<br />

verweisen, dass religiöse Akteure und Organisationen<br />

eine wichtige Rolle in ‚fortschrittlichen‘<br />

– also Werten wie Freiheit, Gleichheit<br />

oder Gerechtigkeit verpflichteten – <strong>Bewegungen</strong><br />

wie den Bürgerrechts- und Bürgerbewegungen<br />

und der Solidaritätsbewegung gespielt<br />

haben.<br />

Als nicht stichhaltig erweisen sich auch die<br />

beiden Theoreme, die zu einem großen Teil für<br />

diese pejorative Etikettierung der Religion als<br />

traditionalistisch verantwortlich sind. Das gilt<br />

zunächst für die These des politiktheoretischen<br />

Liberalismus vom besonderen epistemischen<br />

Charakter religiöser Gründe, der sie angeblich<br />

untauglich macht, als alleinige Basis der Legitimation<br />

politischer Entscheidungen und damit<br />

der Anwendung von Zwang zu dienen (vgl. Audi<br />

2000). Denn weder sind religiöse Argumente in<br />

besonderer oder gar durchgängiger Weise für<br />

nichtreligiöse Bürgerinnen und Bürger unzugänglich<br />

oder unverständlich – sind sie doch<br />

Ergebnis einer diskursiven Prüfung und Reflexion<br />

durch Laien und theologische Experten,<br />

was sie in aller Regel zumindest nachvollziehbar<br />

macht –, noch lässt sich ein besonderer und<br />

durchgängiger Vorzug der Kategorie der säkularen<br />

Gründe mit Blick auf ihre Zugänglichkeit<br />

oder Zustimmungsfähigkeit erkennen: Argu-<br />

Ulrich Willems<br />

mente auf der Basis des Utilitarimus etwa lassen<br />

sich zwar verstehen, allgemein zustimmungsfähig<br />

sind sie aufgrund ihrer sehr spezifischen<br />

Voraussetzungen und Annahmen deshalb<br />

noch lange nicht (Willems 2003: 93-98). 1<br />

Als problematisch erweist sich auch das<br />

Werturteil, die in moralischen Konflikten oder<br />

Wertkonflikten von religiösen <strong>Bewegungen</strong> vertretenen<br />

Positionen seien nicht nur traditionell<br />

in dem Sinne, dass sie einer ‚alten‘ moralischen<br />

Tradition entstammten, sondern auch traditionalistisch<br />

oder gar fundamentalistisch in dem<br />

Sinne, dass sie mit dem moralischen Programm<br />

der Moderne mit seinem Fokus auf Schadensvermeidung<br />

bzw. auf die Sicherung individueller<br />

Autonomie konfligierten. Um es an der für<br />

moderne Wertkonflikte prototypischen Frage der<br />

Regelung des Schwangerschaftsabbruches zu<br />

verdeutlichen: Weder ist das (übrigens nicht nur<br />

von religiösen Gruppen) postulierte Lebensrecht<br />

des Fötus mit dem moralischen Programm der<br />

Moderne unvereinbar oder ‚unvernünftig‘ – die<br />

Verfechter eines Lebensrechts des Fötus vertreten<br />

schlichtweg nur eine andere religiöse bzw.<br />

weltanschauliche Auffassung in der (natur-)wissenschaftlich<br />

nicht entscheidbaren Frage des<br />

Beginns des Lebens als die Kritiker eines solchen<br />

Lebensrechtes – noch sind andere Lösungen<br />

des Wertkonfliktes zwischen dem postulierten<br />

Lebensrecht des Fötus und dem Selbstbestimmungsrecht<br />

von Frauen als die klassische<br />

liberale Privatisierung unvereinbar mit diesem<br />

Programm. Die Wertpositionen religiöser<br />

<strong>Bewegungen</strong> operieren auf der gleichen Augenhöhe<br />

wie ihre säkularen Konkurrenten. Sie bilden<br />

eine Stimme unter anderen. Als fundamentalistisch<br />

wären eher solche Positionen zu bezeichnen,<br />

die das Faktum der Pluralität nicht<br />

zur Kenntnis nähmen und dementsprechend die<br />

Suche nach Lösungen nicht für notwendig erachteten,<br />

die für alle Beteiligten akzeptabel wären<br />

– und solche Positionen wiederum werden<br />

keineswegs nur von religiösen Organisationen<br />

vertreten.

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