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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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Der Sektenkomplex<br />

Diskurs um die neuen religiösen <strong>Bewegungen</strong> 2 ,<br />

die in der Öffentlichkeit meist mit Begriffen wie<br />

‚destruktive Kulte‘, ‚Sekten‘, ‚Psychosekten‘<br />

etc. etikettiert und pauschal zu einer Gefahr für<br />

den Einzelnen und die Gesellschaft stilisiert<br />

werden. 3 Demgegenüber kam ein akademischer<br />

Diskurs anders als in Großbritannien und den<br />

USA hierzulande nur ansatzweise zustande (vgl.<br />

Süss 2002). Und die Anhänger dieser neuen<br />

Richtungen kommen innerhalb dieses Diskurses<br />

bestenfalls als Opfer raffgieriger Gurus und<br />

gefährlicher Psychopraktiken vor.<br />

Die Debatte, in der immerhin so weitreichende<br />

Forderungen wie Verbote von Gruppierungen<br />

und damit die Beschränkung des Verfassungsrechts<br />

auf Religionsfreiheit artikuliert<br />

werden, findet weitgehend ohne Rückgriff auf<br />

wissenschaftlich gesicherte, empirische Daten<br />

statt. 4 Auch für das Bild der neuen Religiosität,<br />

das von Politikern, kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten<br />

und Medienvertretern gezeichnet<br />

wird, gilt, was die Sozialwissenschaftlerin<br />

Birgit Rommelspacher für den gesellschaftlichen<br />

Umgang mit Fremdem insgesamt konstatiert,<br />

dass nämlich die Gewissheit des Fremdbildes<br />

in einem eigenartigen Kontrast zur Unbekanntheit<br />

des Fremden stehe (vgl. Rommelspacher<br />

2002: 10). Ohne ausreichende empirische<br />

Fundierung seitens der Wissenschaft aber<br />

bleibt es bestimmten Interessengruppen überlassen,<br />

ihr Verständnis von nichtkonventioneller<br />

Religiosität gesellschaftlich durchzusetzen<br />

(vgl. Rommelspacher 2002: 12).<br />

Noch in den 1950er und 1960er Jahren beschäftigte<br />

sich lediglich eine kleine Schar evangelischer<br />

Theologen in der Evangelischen Zentralstelle<br />

für Weltanschauungsfragen (EZW) mit<br />

jenen Grüppchen von ‚Sehern, Grüblern, Enthusiasten‘<br />

(Hutten 1982), die sich an den Rändern<br />

der Volkskirche gebildet hatten. Mit dem<br />

Einsetzen der Anti-Sekten-Kampagne in den<br />

1970er Jahren nahm die Zahl jener professionell<br />

agierenden Pluralisierungsgegner deutlich<br />

zu, die die religionsgeschichtlichen Veränderun-<br />

79<br />

gen vor allem als Bedrohung wahrnahmen<br />

(Usarski 1988: 159ff). Immer mehr Pfarrer, Privatpersonen<br />

und Journalisten spezialisierten sich<br />

als sog. ‚Sektenexperten‘. Heute sind in der<br />

Bundesrepublik Deutschland etwa 60 kirchliche<br />

Weltanschauungsbeauftragte im Bereich der<br />

EKD und der römisch-katholischen Kirche tätig<br />

(vgl. Besier/Scheuch 1999: 11f).<br />

Hinzu kommen weitere Beauftragte der Länder,<br />

ein eigenes Referat im Bundesfamilienministerium<br />

und eine entsprechende Stelle im Bundesverwaltungsamt<br />

(vgl. Besier/Scheuch 1999:<br />

11f). Diese sind im Bund-Länder-Gesprächskreis<br />

‚Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘<br />

und in einer Interministeriellen Arbeitsgruppe<br />

‚Scientology‘ miteinander vernetzt. Weitere Arbeitsebenen<br />

wurden in den Ländern zwischen<br />

einzelnen Ressorts etabliert.<br />

Daneben existieren ca. 20 größere sog.<br />

Selbsthilfegruppen wie ‚SINUS‘ in Frankfurt,<br />

die ‚Aktion für geistige und psychische Freiheit‘<br />

(AGPF) in Bonn und das ‚Sekten-Info‘ in Essen,<br />

die mit öffentlichen Geldern bezuschusst<br />

werden (vgl. Besier/Scheuch 1999: 17f). Weiterhin<br />

arbeiten zahlreiche private bzw. halb private<br />

Gruppen auf regionaler und kommunaler Ebene,<br />

in Behörden, Kirchengemeinden, Universitäten<br />

und Fachhochschulen zu dieser Thematik. 5<br />

2 Die Enquete-Kommission des<br />

Deutschen Bundestages<br />

Der wohl größte Erfolg des pluralisierungskritischen<br />

Diskurses war die Einrichtung einer<br />

Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages,<br />

die sich 1996 bis 1998 dem Themenkomplex<br />

‚Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘<br />

widmete. Ihrem Abschlussbericht (Deutscher<br />

Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit 1998;<br />

Deutscher Bundestag, Enquete Kommission<br />

‚Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘ 1998)<br />

stimmte die Mehrheit des Deutschen Bundestages<br />

zu; Bündnis 90/Die Grünen verabschiedeten<br />

dazu ein Sondervotum.

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