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Pulsschlag<br />

und Kooperation vereinbart hatten, lange bevor<br />

Briten im Namen eines ‚liberalen Westens’ mit<br />

Mitteln der Unterdrückung intervenierten. Das<br />

Abschließen internationaler Verträge rekonstruiert<br />

Tully als das Schaffen von Identitäten<br />

zwischen Nationen. Die Verträge respektive<br />

Identitäten entstanden weder in rein strategischen<br />

Aushandlungsprozessen, noch enthielten<br />

sie einen supranationalen Konsens über Verfassungsprinzipien.<br />

Eine derartige Vorgabe, wie sie<br />

die liberale politische Theorie fordere, unterdrücke,<br />

so Tully, relevante nationale Unterschiede.<br />

Indem sich die Nationen ihre Geschichten<br />

erzählten, entwickelten sie eine wechselseitige<br />

Anerkennung der nationalen Eigenheiten. Die<br />

freiwillige Selbstbeschränkung der Nationen sei<br />

nicht aus universalistischen Normen sondern<br />

aus den nationalen Besonderungen erwachsen.<br />

Mit Verweis auf Derrida sieht Tully in der<br />

Konstruktion von kollektiven Identitäten eine<br />

interkulturelle Praxis, die das Nicht-Identische<br />

nicht nur jenseits kultureller und politischer<br />

Grenzen verortet sondern immer auch innerhalb<br />

der eigenen Identitätsgrenzen erfährt. Tully<br />

versteht sein Konzept als „alternative paradigm<br />

of identity“ in der Verfassungslehre (1994:<br />

201). Nicht jede difference ist danach anerkennungswürdig,<br />

sondern nur jene, für die andere<br />

ein Verständnis entwickeln können.<br />

Der Verfassungsvertrag der EU betont den<br />

Konsens über gemeinsame Regeln, die gerade<br />

von den politisch-kulturellen Differenzen zwischen<br />

den Mitgliedsstaaten absehen sollen. Was<br />

in der kanadischen politischen Theorie als integrationsstiftend<br />

hergeleitet wird, diversity awareness,<br />

wird in der EU als desintegrierend abgelehnt.<br />

Für die kollektive Identitätsentwicklung in<br />

der EU ist aber nicht nur die Zusage zur Demokratie<br />

als ein gemeinsamer Nenner entscheidend.<br />

Ausschlaggebend ist ebenfalls, dass die unterschiedlichen<br />

Verständnisse von Demokratie weder<br />

in zahlreichen Öffentlichkeiten der EU erläutert<br />

noch dadurch gleichsam in einer ‚wechselseitigen<br />

Belassung’ von Souveränität und Diffe-<br />

95<br />

renz einander näher gebracht werden. Lediglich<br />

Mehrheits- und Konkordanzdemokratie gelten<br />

vielfach als vermittelbar. Stattdessen besteht, um<br />

entscheidungsfähig zu bleiben, das Bestreben,<br />

die Demokratieverständnisse durch zusätzliche<br />

Einigungen einander weiter anzugleichen und auf<br />

diese Weise eine politische Kultur zu schaffen.<br />

Dabei werden hartnäckige Konflikte vorprogrammiert,<br />

die sowohl die Entwicklung eines europäischen<br />

Verfassungspatriotismus als auch einer<br />

diversity awareness blockieren könnten.<br />

Um Missverständnisse zu vermeiden: zur<br />

demokratischen Frage hat Tully wenig zu sagen.<br />

Er analysiert keinen Zusammenschluss von<br />

Demokratien. Aber er zeigt, wie die kollektive<br />

Identitätsbildung nicht einfach abnimmt oder<br />

ausbleibt, sondern mit institutionellen Änderungen<br />

neu strukturiert wird und unvertraute Symptome<br />

hervorbringt. Tully’s Identitätskonstruktion<br />

ist trotz ihrer dezentralen Konstellation auf<br />

eine Integration durch wechselseitige Anerkennung<br />

angelegt. Von daher bietet sie auch für<br />

demokratietheoretische Fragen zur EU eine<br />

Anregung. Die Wahrnehmung von Europäern,<br />

dem Aufbau einer Un-Einheit beizuwohnen oder<br />

an ihm teilzunehmen, hält erst einmal offen, inwieweit<br />

sie eine Formation an europäischen<br />

Identitäten hervorbringen, die eine demokratische<br />

Einbeziehung einfordert und transnationale<br />

Solidaritäten ausbildet. Wie eine derartige<br />

Formation an Identitäten jenseits eines demos<br />

und einer europaweiten Öffentlichkeit aussehen<br />

kann, muss weiter demokratietheoretisch<br />

ausgearbeitet werden.<br />

Claudia Ritter ist Politikwissenschaftlerin<br />

und derzeit Visiting Fellow am European University<br />

Institute, Florenz. Kontakt: ritter@<br />

sozialwiss.uni.hamburg.de<br />

Literatur<br />

Benhabib, Seyla 2002: The Claims of Culture.<br />

Equality and Diversity in the Global Era.<br />

Princeton: Princeton UP.

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