Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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70<br />
den, 3 auf die Mobilisierungsaktivitäten religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> in Japan auswirken.<br />
2 Gesellschaftlicher und politischer<br />
Kontext der neuen religiösen<br />
<strong>Bewegungen</strong><br />
Eine grundlegende Voraussetzung für die Entfaltungsmöglichkeiten<br />
neuer religiöser <strong>Bewegungen</strong><br />
stellt die verfassungsmäßig garantierte<br />
Religionsfreiheit dar, die in Japan erst nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg realisiert wurde. Zuvor waren<br />
religiöse <strong>Bewegungen</strong> – wie auch die säkularen<br />
<strong>Bewegungen</strong> – ausgeprägten staatlichen<br />
Repressionen ausgesetzt. In der Nachkriegszeit<br />
änderte sich dies grundlegend. Der Staatsshintô,<br />
der zur Untermauerung eines extremen Nationalismus<br />
diente, wurde abgeschafft und in der<br />
japanischen Verfassung von 1947 die Religionsfreiheit<br />
garantiert sowie die strikte Trennung<br />
von Religion und Staat verankert. Seitdem war<br />
der Staat sorgsam darauf bedacht, sich nicht in<br />
Belange religiöser <strong>Bewegungen</strong> einzumischen.<br />
Zudem wurde 1951 das Gesetz über religiöse<br />
Körperschaften verabschiedet, durch das Religionsgemeinschaften<br />
z.B. in den Genuss von<br />
Steuererleichterungen kamen. Damit eröffnete<br />
sich für religiöse <strong>Bewegungen</strong> – unterstützt<br />
durch den Pluralismus und Synkretismus religiöser<br />
Traditionen – ein enormer Freiraum zur<br />
Entfaltung.<br />
Unterstützt durch die Urbanisierung, die die<br />
Menschen aus ihren lokalen Sozialbeziehungen<br />
und Religionen herausriss, konnten religiöse<br />
<strong>Bewegungen</strong> mit verschiedensten Angeboten in<br />
die entstandene Nische treten und entwickelten<br />
sich teilweise zu mächtigen, auch bedeutenden<br />
politischen Faktoren in der japanischen Gesellschaft.<br />
Viele der <strong>Bewegungen</strong> waren z.B. innerhalb<br />
der Friedensbewegung der 1950er und<br />
1960er Jahre aktiv (Inoue 1994: 562-564). Auf<br />
die Nachkriegsjahre geht auch das politische<br />
Engagement der Sôka Gakkai zurück, die als<br />
einzige religiöse Bewegung eine bis heute er-<br />
Iris Wieczorek<br />
folgreiche Partei, die Kômeitô (‚Partei für saubere<br />
Politik‘, 1964), gründen konnte. Die meisten<br />
anderen religiösen <strong>Bewegungen</strong> zogen sich<br />
bald wieder aus der aktiven Politik zurück, da<br />
ihre Möglichkeiten zur Mitbestimmung gering<br />
waren. Aufgrund der bis Anfang der 1990er<br />
Jahre starren politischen Ordnung blieben die<br />
direkten politischen Einflussmöglichkeiten religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> wie auch der säkularen<br />
<strong>Bewegungen</strong> insgesamt relativ begrenzt. Die<br />
Liberaldemokratische Partei (LDP) hatte von<br />
1955 bis 1993 größtenteils unangefochten das<br />
Regierungsmonopol und das politische System<br />
Japans war durch eine Einparteiendemokratie<br />
sowie das ‚eiserne Dreieck‘ aus LDP, Ministerialbürokratie<br />
und Interessenverbänden der Wirtschaft<br />
gekennzeichnet. Die Opposition besaß<br />
faktisch keine politische Durchsetzungskraft.<br />
Die Entwicklung einer Vielzahl neuer religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> seit den 1970er Jahren hängt<br />
eng zusammen mit Aspekten des Wertewandels<br />
und der politischen Gelegenheitsstrukturen in<br />
Japan. Ähnlich wie in westlichen Industrienationen<br />
hat in Japan ein Wertewandel in Richtung<br />
auf zunehmenden Individualismus, Selbstverwirklichung<br />
und Hedonismus stattgefunden<br />
(Möhwald/Ölschleger 1996: 121-147). Durch<br />
den steigenden Lebensstandard weiter Bevölkerungskreise<br />
rückten der soziokulturelle Bereich<br />
und damit Fragen nach der Lebensqualität<br />
und die Suche nach neuen sinn- und identitätsstiftenden<br />
Gesellschaftsformen in den Vordergrund.<br />
In Japan kam es zur Ausbildung verschiedener<br />
Phänomene wie die Bildung von<br />
Subkulturen oder Kommunen, der New-Age-<br />
Bewegung und neuer religiöser <strong>Bewegungen</strong>.<br />
Diese Phänomene erhielten wichtige Impulse<br />
aus der Studentenbewegung und reihten sich<br />
ein in die modernisierungskritischen <strong>Bewegungen</strong><br />
dieser Zeit.<br />
Im Vergleich zu Deutschland bildeten sich<br />
in Japan auffallend viele ‚kulturorientierte <strong>Bewegungen</strong>‘<br />
(Raschke 1988: 111, 116), die außerhalb<br />
des politischen Systems Foren für das