Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 17, 4/2004<br />
Iris Wieczorek<br />
<strong>Soziale</strong> und politische Aktivitäten ‚neuer religiöser <strong>Bewegungen</strong>‘ in Japan<br />
1 Die Bedeutung religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> in Japan<br />
In Japan ist das Phänomen neuer religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> im Vergleich zu den USA und<br />
Europa stärker ausgeprägt. Gegenwärtig existieren<br />
über 600 religiöse Gruppen, die durch<br />
die Beteiligung und den aktiven Einsatz mehrerer<br />
zehn Millionen Mitglieder – etwa 10% bis<br />
20% der japanischen Bevölkerung beteiligt sich<br />
an ihnen (Inoue 1992: 2, Reader 1991: 196) –<br />
über ein bedeutendes gesellschaftspolitisches<br />
Potenzial verfügen. Aufgrund kultureller Besonderheiten<br />
können religiöse <strong>Bewegungen</strong> in<br />
Japan auf eine über 150-jährige Geschichte verweisen.<br />
Dabei besitzen sie von jeher einen ausgeprägt<br />
synkretistischen Charakter und haben<br />
eine Vielfalt religiöser Strömungen in sich aufgenommen,<br />
von den volksreligiösen Traditionen<br />
über Buddhismus, Shintô und Hinduismus<br />
bis hin zu New-Age-Ideen. 1 Seit den 1970er<br />
Jahren spricht man in Japan vom nunmehr ‚ vierten<br />
Religionsboom, in dessen Zusammenhang<br />
sich parallel zur New-Age-Bewegung zahlreiche<br />
neue religiöse <strong>Bewegungen</strong> entwickelten<br />
(Shimazono 1996, Inoue 1994: 2).<br />
Religiöse <strong>Bewegungen</strong> begleiteten und<br />
kommentierten Japans Entwicklung von einer<br />
Feudalgesellschaft hin zu einer Industrienation.<br />
Dabei versuchten sie immer wieder, ihren<br />
Einfluss aktiv geltend zu machen, wenn sich<br />
ihnen die Gelegenheit dazu bot. Als Teil der<br />
sozialen <strong>Bewegungen</strong> sind sie Produkte und<br />
Produzenten sozialen Wandels (Raschke 1988:<br />
117): Sie zeigen Widerspruchs- und Konfliktpotenziale,<br />
machen auf gestaltbare oder gestaltungsbedürftige<br />
Aspekte der japanischen Gesellschaft<br />
aufmerksam (Wieczorek 2002: 16).<br />
69<br />
Dabei verfolgen sie nicht nur religiöse Ziele (siehe<br />
Inoue 1994: 562-564). So setzte sich<br />
beispielsweise die 1838 gegründete und heute<br />
etwa zwei Millionen Mitglieder zählende shintôistische<br />
Religionsgemeinschaft Tenrikyô<br />
(,Lehre der himmlischen Wahrheit‘) für die Belange<br />
japanischer Frauen ein. In einer zweiten<br />
Welle religiöser <strong>Bewegungen</strong> ab dem Jahr 1920<br />
entstand z.B. die Sekai Kyuseikyô (‚Lehre zur<br />
Errettung der Welt‘, 1926) 2 , die Naturheilkunde<br />
und ökologischen Anbau in den gesellschaftlichen<br />
Diskurs einbrachte. Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg begann eine dritte Phase religiöser<br />
Vitalität, in der sich die politisch ambitionierte<br />
Sôka Gakkai (,Studiengesellschaft zur Schaffung<br />
von Werten‘) zu einer bis heute einflussreichen<br />
Gruppe entwickelte. Unter den neuen<br />
religiösen <strong>Bewegungen</strong>, die sich schließlich seit<br />
Mitte der 1970er Jahre entwickeln, ist die Aum<br />
Shinrikyô (im Folgenden Aum) durch den Giftgasanschlag<br />
auf die Tokyoter U-Bahn im März<br />
1995 zu negativer Berühmtheit gelangt. Die Aum<br />
ist zwar ein extremes Beispiel, doch ist sie Teil<br />
eines gesellschaftlichen Phänomens, das sich in<br />
Japan wie auch in den USA und Deutschland<br />
zeigt: Die Religiosität fernab von etablierten<br />
Institutionen boomt und es sind religiöse Märkte<br />
entstanden, auf denen eine Vielzahl neuer religiöser<br />
<strong>Bewegungen</strong> agiert.<br />
Diese neuen religiösen <strong>Bewegungen</strong> als Indikatoren<br />
und Träger sozialen Wandels in Japan<br />
stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.<br />
Es wird untersucht, inwieweit sich Aspekte<br />
des Wertewandels und der politischen Gelegenheitsstrukturen<br />
(vgl. hierzu z.B. Rucht 1994:<br />
296-303, McAdam/McCarthy/Zald 1996: 23-<br />
137), die im Rahmen der Forschung zu religiösen<br />
<strong>Bewegungen</strong> bisher wenig beachtet wur-