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Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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Pulsschlag<br />

zu verwirklichen (hm) und die mir och wieder<br />

de Kraft geben, mich auf dem Weg zu halten.“<br />

(Herr H: 1481ff.) Der Theologe Paul Tillich<br />

nennt dieses spezifische Modell christlicher<br />

Weltgestaltung „Geist der Utopie“. Die Vorstellung<br />

einer idealen Gesellschaft hat zwei Dimensionen:<br />

eine innergeschichtliche und eine<br />

übergeschichtliche. Tillich benennt dementsprechend<br />

die zwei grundlegenden Irrtümer: der<br />

„Utopismus“ sucht die Erfüllung ausnahmslos<br />

innergeschichtlich und kann zur totalitären<br />

Paradies-Erzwingung führen, während auf<br />

christlich-religiöser Seite bestimmte Strömungen<br />

die Erfüllung ausschließlich übergeschichtlich<br />

suchen und so jede Veränderung der Welt<br />

auf das Jenseits vertrösten. Den „Geist der<br />

Utopie“ zeichnet aus, dass er um die Gefahren<br />

der beiden Irrtümer weiß und zwischen ihnen<br />

vermittelt. Für Tillich bedeutet dies, dass es<br />

Augenblicke innergeschichtlicher Erfüllung<br />

gibt, dass diese Durchbruchsmomente aber<br />

„nicht das Reich Gottes, sondern das fragmentarische,<br />

vorwegnehmende, immer gefährdete<br />

Bild des Reiches Gottes in einer spezifischen<br />

Periode der menschlichen Geschichte sind“<br />

(Tillich 1963: 156). Diesem Nicht-Drängen auf<br />

Verwirklichung wohnt ein selbstbegrenzendes,<br />

antitotalitäres Element inne. Gerade die Erfahrung<br />

des Scheiterns der großen Gesellschaftsveränderungsprojekte,<br />

das bejubelte oder betrauerte<br />

Ende der Utopien und großen Erzählungen,<br />

macht dieses religiöse Vergegenwärtigungsmodell<br />

so interessant.<br />

Halten wir fest: Eine weitere wichtige Funktion<br />

der Religion ist die Dauermobilisierung<br />

des Engagements trotz zahlreicher Enttäuschungen.<br />

Strategien<br />

Im Folgenden einige Beobachtungen zum Einfluss<br />

der Religion auf die Strategien und Ziele<br />

der Akteure.<br />

Auch hier fördert die Kreativität religiöser<br />

Ideen das Tun-als-ob. Herr H: „wenn ich mich<br />

89<br />

mit’n Schuldirektor auseinandergesetzt hab,<br />

über Wehrerziehung und solche Geschichten,<br />

da bin ich manchmal dann anschließend nach<br />

Hause gekommen und hab mit der (Name der<br />

Ehefrau) drüber gesprochen. Und hab immer<br />

gesagt, äh, ich kann mir vorstellen, dass ich<br />

eines Tages irgendwann, wenn mor im Reich<br />

Gottes sind (...) mit’n Direktor, am Tisch sitz<br />

und wir trinken een Glas Wein und sag´n<br />

Mensch, was war’n wir damals für Arschlöcher,<br />

über welchen Kleinkram ham wir uns<br />

gestritten. Genauso wie wo ich aus’n Knast<br />

rauskam, hab ich zur (Name der Ehefrau) gesagt,<br />

ich kann mir vorstellen, mit mei’m Vernehmer,<br />

der mir’s Leben net leicht gemacht<br />

hat, mit dem een Glas Bier zu trinken“ (Herr<br />

H: 1070ff). Jene eschatologische Totalinklusion<br />

verbindet das christliche Ideal versöhnter<br />

Tischgemeinschaft im Abendmahl und das<br />

Reich Gottes. In diese versöhnte Stammtisch-<br />

Gemeinschaft (man zecht zusammen) wird der<br />

politische Gegner (ungefragt) mit eingeschlossen.<br />

Der Wirklichkeit, der Welt des Alltags<br />

werden kontrastierende „Als-ob“-Eigenschaften<br />

unterstellt (Schütz 1971: 271f). Diese<br />

Konstellation sich überschneidender Wirklichkeitsbereiche<br />

ermöglicht es, den politischen<br />

Gegner zu behandeln, als ob er der imaginierte,<br />

christlich behauptete Menschenbruder wäre.<br />

Sie ermöglicht die zeitweise Distanzierung von<br />

einem Freund-Feind-Schema und damit eine<br />

nicht verbitternde Einstellung gegenüber dem<br />

politischen System.<br />

In der Selbstbeschreibung der Interviewten<br />

wird das eigene Handeln am biblischen Vorbild<br />

der ‚Umkehr’ orientiert. ‚Umkehr’ meint, dass<br />

der Veränderung der Gesellschaft notwendig die<br />

Veränderung des persönlichen Lebensstiles vorausgehen<br />

muss. Herr E: „für eine Veränderung<br />

der Welt (...), dass das beides nur miteinander<br />

gelingen kann, nur wenn Menschen, die selbst<br />

sozusagen auf dem Wege der Veränderung sind,<br />

dass die auch sozusagen auch die Akzeptanz<br />

haben und auch die Kompetenz haben die poli-

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