Vollversion (1.57 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Pulsschlag<br />
dienst abzuleisten bzw. zu verweigern. Und ab<br />
1964 gab es mit den sogenannten Baueinheiten<br />
der NVA (Bausoldaten) die Möglichkeit<br />
eines waffenlosen Wehrersatzdienstes. Für die<br />
DDR-Opposition wurde dieses protestantisch<br />
dominierte Milieu von Kriegsdienstverweigerern<br />
zu einer ihrer wichtigsten Keimzellen.<br />
Weniger beachtet wird in der Geschichtsschreibung<br />
der andere Typ. Die Frauen werden in<br />
ihrer Rolle als Mütter mit der DDR-Wirklichkeit<br />
konfrontiert. Sollen die Kinder Mitglied<br />
in den staatlichen Jugendorganisationen mit<br />
den ausgeprägten Bestandteilen der vormilitärischen<br />
Erziehung werden? Wie geht man mit<br />
den starken Umweltbelastungen um? Dazu die<br />
gelernte Krankenschwester Frau D: „Dann hab<br />
ich 1983 ein viertes Kind gekriegt. Und äh<br />
parallel etwa mit der Geburt unserer Tochter<br />
fiel dann, dass die Wehrkreiskommandos Wehrpässe<br />
an medizinisches Personal, an Frauen<br />
ausgaben. Als Folge ham wir dann dort ne Friedensgruppe<br />
gegründet, ’84 glaub ich.“ (Frau<br />
D: 126ff) In diesen Entscheidungs- bzw. Bekenntnissituationen<br />
wird die Religion für die<br />
Legitimation nonkonformen, aus Sicht des<br />
Christentums normkonformen Handelns in<br />
Anspruch genommen. 4 Entweder durch den<br />
Bezug auf das alttestamentliche Tötungsverbot<br />
der 10 Gebote oder allgemeiner als Zeugnis<br />
eines christlichen Auftrages. Die Mobilisierung<br />
und Legitimation des Engagements ist<br />
die Hauptfunktion innerhalb dieser komplexen<br />
Ausgangskonstellation von Abstoßungseffekten,<br />
der geschlechtsspezifischen Konfrontation<br />
mit Entscheidungssituationen, den biographisch<br />
präsenten, fremd- oder selbsterlebten<br />
Weltkriegserfahrungen, einem systemübergreifenden<br />
Politisierungsschub im Zuge des<br />
Prager Frühlings und der Studentenunruhen<br />
und schließlich der Schreckwirkung der atomaren<br />
Selbstvernichtung. Die Religion ist daher<br />
tatsächlich ein wichtiger Geburtshelfer, sie<br />
bietet die moralischen Anreize für das Engagement<br />
(Opp 1994: 21).<br />
87<br />
Persistenzbedingungen<br />
Diesen unterschiedlichen Initiativimpulsen<br />
folgte die Gründung und Mitarbeit in diversen<br />
Friedens- und Umweltgruppen und bedeutenden<br />
Großereignissen der DDR-Opposition 5 ,<br />
folgte das jahrzehntelange Engagement. Wie<br />
aber plausibilisieren die Befragten jene Langlebigkeit?<br />
Zunächst fällt das Missverhältnis zwischen<br />
den subjektiven Kosten und dem objektiven<br />
Nutzen der Arbeit auf. Vor allem die Laienchristen,<br />
die nicht unter dem schützenden Dach der<br />
Kirche Beschäftigten, waren starken Einschränkungen<br />
bei Berufs- und Studienwahl oder etwa<br />
bei der Wohnungssuche ausgesetzt. Hinzu<br />
kommt die allgegenwärtige Dauerbeobachtung,<br />
die innerbetrieblichen Disziplinarmaßnahmen<br />
durch den Parteisekretär, Ordnungsstrafen,<br />
Hausdurchsuchungen, Vernehmungen, Inhaftierungen.<br />
Dieses Missverhältnis wird aber innerhalb<br />
der christlichen Religion als Ideal umgedeutet.<br />
„Kirche muss eine Probiergemeinschaft<br />
sein, sozusagen `ne Austestgemeinschaft.<br />
Christen müssen diejenigen sein, die am ehesten<br />
bereit sind, Risiken einzugehen, weil sie<br />
sozusagen aus einer unheimlich gesicherten<br />
Grundposition heraus dies machen können.“<br />
(Herr E: 1185ff) Die Selbstprivilegierung, eine<br />
„gesicherte Grundposition“ zu haben, spielt<br />
nicht auf materiellen Besitz an. Gemeint ist etwas,<br />
das die Theologie Glaubens- bzw. Heilsgewissheit<br />
nennt. Diese religiöse Selbsteinbettung<br />
wird nun Vorraussetzung für ein Leben,<br />
dass Benachteiligungen riskiert, dafür aber im<br />
verändernden Engagement sein spezifisch<br />
christliches Profil zu gewinnen sucht. 6 In der<br />
Bindung an dieses Ideal gründet auch und vor<br />
allem der subjektive Nutzen des Engagements<br />
trotz Enttäuschung. Aus Sicht der sozialen Bewegung<br />
liegt die Hauptfunktion der Religion<br />
darin, dass Handlungshemmnisse abgebaut<br />
werden und sich somit die Mobilisierungsbereitschaft<br />
erhöht – zumal in einem totalitären<br />
Weltanschauungsstaat.