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handreichung zum lehrplan leistungskurs philosophie

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Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verändert sich<br />

nach Reinhart Koselleck im Zuge der „Säkularisation“<br />

das Zeitbewusstsein in der Weise, dass für den Menschen<br />

nicht mehr das gott gewollte Ende schneller<br />

herbeikommt, sondern sich die Fortschritte der<br />

Menschheit beschleuni gen, wie beispielsweise die<br />

Beherrschung der Natur und die Selbstorganisation<br />

der gesellschaft lich-politischen Verfassungen. Das<br />

Heil, so Kosellek, wurde nicht mehr am Ende der<br />

Ge schichte, sondern im Vollzug der Geschichte selbst<br />

gesucht. Aus der apokalyptisch erwarteten Zielbestimmung<br />

sei durch die Säkularisierung in der Aufklärung<br />

ein „rein innerweltlicher Erwar tungsbegriff“<br />

geworden, doch die Vor stellung von „Zukunft“ sei<br />

somit geprägt von „quasi-religiö ser Verheißung“,<br />

worin das christliche Erbe präsent sei (Koselleck:<br />

Zeitschichten, Kap. II, 2). Im Ge gensatz zur Möglichkeit<br />

der von Gott gewollten Zeitverkürzung bediene<br />

sich der Mensch der „immer gleich blei benden Naturzeit“,<br />

um darin die von ihm ausgelösten Fortschritte<br />

chronolo gisch zu ord nen, die sich in einer Zeitbeschleunigung<br />

in eine Zukunft bewegen.<br />

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Kant<br />

im Zuge des moralischen Fort schritts der Menschheit<br />

(der „inneren Kultur“) eine Beschleunigung geschichtlicher<br />

Pro zesse vermutet: „ … es scheint, wir könnten<br />

durch unsere eigene vernünftige Veranstal tung diesen<br />

für unsere Nach kommen so erfreulichen Zeitpunkt<br />

schneller herbeiführen“ (Kant: Idee zu einer allgemeinen<br />

Ge schichte in weltbürgerlicher Absicht, 8. Satz). Auch<br />

im 19. Jahrhundert blieben die säkularisier ten christlichen<br />

Zielbestimmungen noch ge genwärtig. Anstelle<br />

der Heilserwartung sei der techni sche Erfolg getreten,<br />

das Subjekt habe von Gott <strong>zum</strong> Menschen gewechselt,<br />

der sich <strong>zum</strong> Ziel setzt, eine Zukunft von Glück<br />

und Herrschaftsfreiheit anzustreben. Die Beschleunigung<br />

von Ar beitsprozessen wird empirisch erfahrbar;<br />

Zeitgewinn macht sich in der Steigerung der Produktion<br />

be merkbar, und es entsteht auf breiterer Ebene<br />

der Gesellschaft eine Bedürfnissteigerung an den neu<br />

entstandenen Produkten. Die Beschleunigungsvorgänge,<br />

die sich im 20. Jahrhun dert bis in unsere Zeit<br />

fortsetzen, so Koselleck, zeigen sich deutlich in der<br />

ra santen Entwick lung von Wissenschaft, Technik und<br />

Industrie (z. B. Nachrichtenübermitt lung, Mobilität).<br />

Inzwi schen lassen sich in den modernen Formen der<br />

Beschleunigung diese weltimma nenten Pro zesse nicht<br />

mehr aus der christlichen Heilserwartung ableiten.<br />

So geht Koselleck davon aus, dass wir inzwischen<br />

zwar eine „Dauererfahrung“ von Be schleuni gung entwickelt<br />

haben, aktuelle Be schleunigungsprozesse aber<br />

dennoch inzwischen ihren Sättigungs grad erreicht<br />

haben. Dies zeige sich darin, dass zwar dank der Informations<br />

technologie die Auswertung von Information<br />

noch schneller zu bewältigen sei, der Mensch aber<br />

dennoch auf seine naturgegebene Rezeptions fähigkeit<br />

verwiesen bleibe. Mit Blick auf die Zukunft hält<br />

Koselleck die Wahrscheinlichkeit für gering, dass<br />

sich aus den bisherigen Beschleuni gungserfahrungen<br />

geschichtsimmanent lang fristige Prozesse ab leiten<br />

ließen. Mit dem Erfahrungsmuster der Beschleunigung<br />

lässt sich nach Koselleck im Rückblick die gesamte<br />

Geschichte als eine „Zeitfolge der Akzeleration“<br />

betrach ten. Dabei wären drei Zeitkurven zu benennen:<br />

(1.) eine „biologische Ausdifferenzierung“ des Menschen<br />

wesens, (2.) eine kulturell beschleunigte Entwicklung<br />

und (3.) eine „exponen tielle Zeit kurve“, die<br />

„postchristlich, technisch-industriell“ bedingte und<br />

spezifisch ge schichtszeit liche Be schleunigung. Diese<br />

Zeitkurven lassen sich nach Koselleck nicht mehr<br />

un gehemmt in die Zu kunft hochrechnen; vielmehr<br />

wird die Menschheit wohl mehr auf „Sta bilisatoren“<br />

angewiesen sein und sich mehr auf die naturhaften<br />

Gegebenheiten des irdi schen Daseins beziehen<br />

müssen (Koselleck: Zeitschichten, Kap. II,3).<br />

5. Kritik an der Geschichts<strong>philosophie</strong> und<br />

am „Fortschrittsoptimismus“<br />

Kritik an der Geschichts<strong>philosophie</strong> ist so alt wie die<br />

Geschichtsphiloso phie selbst. Jean-Jacques Rousseau<br />

hatte 1755 den Fortschritt in Zweifel gezogen, denn<br />

gerade im wis senschaft lich-technischen Fort schritt<br />

sieht er die Quelle der sozialen Ungerechtigkeit, des<br />

morali schen Egoismus und der politischen Gewaltherrschaft.<br />

Seine berühmte Metapher vom ersten<br />

Men schen, der ein Stück Land einzäunte, um es als<br />

sein Eigentum zu dekla rieren, zeigt aus seiner Sicht<br />

den Beginn des Verfalls (Jean-Jacques Rousseau:<br />

Diskurs über die Ungleichheit).<br />

Geschichts<strong>philosophie</strong> 31

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