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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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aufzunehmen. Die Richtigkeit kann nachgeprüft werden: es handelt sich um einen Herrn Mullin, der am Bahnhof in<br />

Besannen angestellt ist. Übrigens hatte ich schon im Block 48 einen Tschechen getroffen, der unter gleichen Umständen<br />

von Birkenau zurückgekommen war.<br />

Meine Meinung über die Gaskammern? Es waren welche vorhanden, aber nicht so viele, wie angenommen wird.<br />

Vernichtungen vermöge dieses Mittels fanden auch statt, doch nicht so viele, wie gesagt wird. Die Zahl vermindert<br />

bestimmt nicht ihre Schreckensnatur, doch die Tatsache, daß es sich um eine Maßnahme handelt, die von einem Staat im<br />

Namen einer Philosophie oder Doktrin angeordnet wurde, würde diese Natur bedeutend erhöhen. Muß zugegeben werden,<br />

daß es sich so verhielt? Es ist möglich, aber nicht gewiß. Die Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen dem<br />

Vorhandensein von Gaskammern und den Vernichtungen ist durch die von Eugen Kogon veröffentlichten Texte nicht<br />

einwandfrei sicher festgestellt worden 19 ) , und ich fürchte, daß die weiteren, auf die er sich, ohne sie zu zitieren, bezieht, sie<br />

noch weniger festigen.<br />

Ich wiederhole: Das Argument, das in dieser Angelegenheit die größte Rolle spielte, scheint das Unternehmen "Auslese" zu<br />

sein, von dem kein Verschickter als Zeuge in dieser oder jener Form sprechen kann, und der es in erster Linie nur unter<br />

dem Eindruck von allem dem täte, was er hiervon im Augenblick befürchtet hatte. Die Archive des Nationalsozialismus<br />

sind noch nicht völlig durchgesehen. Mit Sicherheit ist erst weiterzukommen, wenn in ihnen solche Dokumente entdeckt<br />

werden, die die angenommene These entkräften: dies hieße, in die entgegengesetzte Übertreibung zu verfallen. Wenn sie<br />

aber eines Tages ein oder mehrere Originale freigeben, die den Bau von Gaskammern zu einem ganz anderen Zweck als dem<br />

der Vernichtung anordnen — bei dieser schrecklichen Begabung der Deutschen weiß man das nie — müßte man wohl<br />

zugeben, daß der in gewissen Fällen von ihnen gemachte Gebrauch auf einen oder zwei Verrückte unter der SS und einer<br />

oder zwei Büro-<br />

-191-<br />

18) Er war tatsächlich nach einer Reise unter entsetzlichen Bedingungen in einem Bergen-Belsen angekommen, in dem aus ganz Deutschland<br />

Transporte Arbeitsunfähiger zusammenliefen, von denen man nicht wußte, wo man sie unterbringen und wie man sie ernähren sollte, was für<br />

die SS Veranlassung zur Aufregung und für die Kapos zum Gebrauch des Gummiknüppels war. Er verlebte dort schreckliche Tage und wurde<br />

schließlich dem Kreislauf der Arbeit wieder eingegliedert.<br />

19) Genau so wenig, wie die vor den Schranken des Nürnberger Gerichts gemachten Aussagen es sind, wie dies in "Hakenkreuz gegen<br />

Äskulapstab" auch gesagt ist.<br />

kratien der Konzentrationslager, die ihnen gefällig sein wollten, zurückfällt oder umgekehrt, auf eine oder zwei Bürokratien<br />

der Konzentrationslager mit der erkauften oder nicht erkauften Mittäterschaft von einem oder zwei besonders sadistischen<br />

SS-Angehörigen.<br />

Nach dem augenblicklichen stand der Archäologie der Lager 20 ) läßt nichts diese Erwartung oder Hoffnung zu, aber nichts<br />

gestattet uns auch, sie auszuschließen. Eine symptomatische Tatsache ist auf jeden Fall sehr wenig hervorgehoben worden:<br />

in den wenigen Lagern, in denen Gaskammern vorgefunden wurden, waren sie eher den Sanitätsblocks für Desinfektion und<br />

Duschen angegliedert, die Wasseranlagen enthielten, als den Krematoriumsöfen, und die angewendeten Gase waren<br />

Ausdünstungen von Blausäuresalzen, also von Produkten, die Verbindungen mit Farbstoffen eingehen, hauptsächlich<br />

blauen, von denen Deutschland im Kriege so reichhaltigen Gebrauch machte.<br />

Dies ist natürlich nur eine Annahme. Aber sind in der Geschichte wie in der Wissenschaft nicht die meisten Entdeckungen<br />

wenn nicht von einer Annahme, so doch zumindest von einem anregenden Zweifel ausgegangen?<br />

Wenn man einwirft, es liege kein Interesse vor, auf diese Weise mit dem Nationalsozialismus zu verfahren, dessen<br />

Freveltaten doch gründlich festgelegt seien, wird man mir die Behauptung erlauben, daß ebenso wenig Interesse vorliegt,<br />

eine vielleicht wahre Doktrin oder Auslegung auf Ungewisse oder unwahre Vorkommnisse zu stützen. Alle großen<br />

Grundsätze der Demokratie sterben nicht an ihrem Inhalt, sondern weil sie allzu sehr sich eine Blöße durch Einzelheiten<br />

geben, die man in ihrer Tragweite ebenso unbedeutend wie in ihrem Inhalt glaubt, und die Diktaturen siegen allgemein nur<br />

in dem Maße, in welchem man gegen sie schlecht erdachte Argumente ins Feld führt. Hierzu führt David Rousset eine<br />

Tatsache an, die diese Anschauungsweise meisterhaft illustriert:<br />

"Ich sprach mit einem deutschen Arzt. . . Dieser war sichtbar kein Nazi. Er war den Krieg leid und<br />

wußte nicht, wo sich seine Frau und seine vier Kinder befanden. sein Wohnort, Dresden, war in<br />

grausamster Weise mit Bomben heimgesucht worden. «sehen sie», sagte er zu mir, «ist der Krieg<br />

nun für Danzig geführt worden?» Ich antwortete verneinend. «Dann, sehen sie, ist<br />

20) Zwei andere Originale werden von David Rousset in "Der Hanswurst lacht nicht" zitiert. Das erstere ist die Aussage eines gewissen<br />

Wolfgang Grosch in Nürnberg: es bezieht sich auf den Bau von Gaskammern und nicht auf ihre Benutzung. Das zweite bezieht sich auf die mit<br />

Erstickungsmitteln ausgerüsteten Kraftwagen, die in Rußland benutzt worden sein sollen und trägt die Unterschrift eines SS-Untersturmführers<br />

und ist an einen Obersturmführer gerichtet. Weder das eine noch das andere lassen die Anklage gegen die leitenden Persönlichkeiten des<br />

Naziregimes zu, Vernichtung durch Gas befohlen zu haben. Beide sind im Anhang zu diesem Kapitel zu linden.

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