DIE LÜGE DES ODYSSEUS
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
stehen: für denselben Fall verabfolgen sie an einem Tag die schwarze, an einem anderen die gelbe oder rote, ohne daß man<br />
den inneren Grund erraten könnte, der ihre Wahl bestimmt hat. Wir haben außerordentliches Glück, daß alle Salben<br />
antiseptisch sind!<br />
In der Inneren Ambulanz stellen sich die Leute vor, die die Hoffnung haben, in das Revier eingewiesen zu werden. Jeden<br />
Abend sind es fünf- bis sechshundert, von denen die einen genau so krank wie die anderen sind. Manchmal sind zehn oder<br />
fünfzehn Betten verfügbar: versetzen Sie sich nun an die Stelle des Arztes, der die zehn oder fünfzehn Auserlesenen<br />
herauszusuchen hat ... Die anderen werden mit oder ohne<br />
1) Später habe ich erfahren, daß Jonny schlau genug gewesen war, zugleich den Schutz von Katzenellenbogen zu erhalten, dieses Häftlings,<br />
der von amerikanischer Herkunft zu sein behauptete und Generalarzt des Lagers war, und der genug Ausschreitungen verübte, um deswegen<br />
bei der Befreiung als Kriegsverbrecher angesehen zu werden.<br />
Schonung zurückgeschickt; sie stellen sich am nächsten Tage und alle anderen Tage wieder vor, bis sie das Glück haben,<br />
aufgenommen zu werden: diejenigen, welche sterben, bevor man ihren Fall in dem von ihnen gewünschten Sinne befunden<br />
hatte, werden nicht gezählt.<br />
Ich habe Häftlinge gekannt, die sich nie zu den Duschen vorstellten, weil sie Angst hatten, die Apparate könnten Gas 2 )<br />
anstatt Wasser ausströmen; eines Tages haben die Krankenpfleger bei der wöchentlichen Visite des Blocks Läuse bei ihnen<br />
gefunden ... Nun ließ man ihnen auf dem Wege der Desinfektion eine solche Behandlung angedeihen, daß sie daran starben.<br />
Ebenso habe ich welche gekannt, die sich nie im Revier vorstellten: sie hatten Angst, sie könnten als Meerschweinchen<br />
verwendet werden oder eine Spritze bekommen. Sie widerstrebten, widerstrebten und widerstrebten entgegen jedermann und<br />
entgegen allen Ratschlagen, und eines Abends brachte ihr Kommando ihre Leiche zum Appellplatz mit.<br />
In Dora bestand kein Meerschweinchenblock und Einspritzungen fanden nicht statt. Im allgemeinen wurden Spritzen in<br />
allen Lagern übrigens nicht bei den gewöhnlichen Häftlingen angewandt, sondern von einem der beiden Stämme der<br />
Häftlingsführung gegen den anderen: die Grünen gebrauchten dieses Mittel, um sich auf geschmeidige Art von einem Roten<br />
zu befreien, dessen Stern sie am SS-Himmel aufsteigen fühlten oder umgekehrt.<br />
Ein glückliches Zusammentreffen von Umständen führte dazu, daß es mir gelang, am 8. April 1944 in das Revier zu<br />
kommen: seit gut vierzehn Tagen schleppte ich einen fiebernden Körper durch das Lager, der sich zusehends aufblähte.<br />
Die Geschwulst hatte an den Knöcheln begonnen:<br />
"Ich auch, blöder Hund!" hatte mein Kapo erklärt.<br />
Es blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin die Loren vom Straßenbaukommando zu beladen. Eines Morgens mußte<br />
ich mich auf dem Appellplatz mit der Hose über dem Arm vorstellen, weil es mir nicht gelungen war, sie anzuziehen:<br />
"Blöder Hund!" erklärte mein Kapo, "du bist verrückt! Geh' mal zum Revier!"<br />
-119-<br />
-120-<br />
2) Die Gaskammern, die gewisse SS-Angehörige leugneten, die andere mit den Begründungen der Mme Simone de Beauvoir rechtfertigten,<br />
bestanden in Dora nicht. Sie bestanden auch in Buchenwald nicht. Nur nebenbei stellte ich fest, daß es unter allen, die die Schrecken dieser<br />
Art Todesstrafe so genau beschrieben haben, und die in den Vereinigten Staaten übrigens gesetzlich ist, es meines Wissens keinen<br />
Augenzeugen gibt. (Vgl. auch S. 186 u. f.).<br />
Und er unterstrich diesen Befehl mit einigen nachdrücklichen Faustschlägen. Das geschah am 3. April.<br />
Vor dem Revier befand ich mich im Gewühl. Nach einer Stunde Wartens kam ich zur Vorstellung vor den Arzt:<br />
"Du hast nur 37,8, es ist unmöglich, dich im Revier aufzunehmen: drei Tage Schonung. Bleibe im Block mit den Beinen<br />
in der Luft liegen, dann vergeht es. Wenn es nicht vergeht, komme wieder."<br />
An Stelle der Ruhe wurde ich von den mitleidlosen Stubendiensten während der drei Tage mit Reinigungsarbeiten im<br />
Block beschäftigt. Nach Ablauf der Frist stellte ich mich in einem sichtbar verschlimmerten Zustand wieder vor.<br />
"Natürlich mußt du im Revier aufgenommen werden", sagte der Arzt zu mir, "aber es sind nur drei Plätze frei und ihr seid<br />
mindestens vierhundert Anwärter, unter denen sich welche befinden, deren Zustand schlimmer ist als deiner. Nochmals drei<br />
Tage Schonung, dann kommst du wieder ..."<br />
Ich fühlte, wie die Gewißheit des Krematoriums in mir aufstieg. Niedergeschlagen ging ich zum Block zurück, wo mein<br />
erstes Paket auf mich wartete, dank dem ich von den Stubendiensten erreichen konnte, daß sie mich ausgestreckt auf<br />
meinem Bett liegen ließen, anstatt mich mit Arbeiten zu beschäftigen.<br />
Am 8. April, als ich wieder an der Reihe war, mich vorzustellen, reihte ein Paket aus guter alter Zeit mich unter die drei<br />
oder vier Auserlesenen ein. Das Schlimme an meinem Fall ist, daß ich diese Tatsache nicht anormal fand.