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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Der Holländer erreichte tatsächlich, daß in dem Maße, in dem von Durchfallkranken verlassene Plätze verfügbar wurden,<br />

man in der "Bude" festgestellte Lungen- und Rippenfellentzündungen von 58 Grad Temperatur an zuließ: nachdem es<br />

zwischen ihm und dem Kapo einige<br />

Auseinandersetzungen gegeben hatte! Ja, er behauptete, mit der Kohle sei es möglich, die Durchfallkranken wirksam ohne<br />

Krankenhausbehandlung zu pflegen, wenn sie beizeiten behandelt würden, und daß man auf diese Weise Platz für die<br />

Lungen- und Rippenfellentzündungen schaffen könne. Das Duell wurde homerisch. Ein dem Lager zugeteilter SS-Arzt, der<br />

im November als Begleiter eines Transports gekommen und bei diesem Konflikt, der ihn belustigte, lange gleichgültig<br />

geblieben war, gab schließlich dem Holländer recht: man machte sich an den Bau eines Blocks, da die "Bude" sich rasch<br />

als viel zu klein herausstellte.<br />

Dann kamen die Nierenentzündungen an die Reihe. Die Nierenentzündung war vom Lagerleben nicht zu trennen: die<br />

Unterernährung, die allzu langen Aufenthalte im Stehen, die Folgen der Unbilden der Witterung, die Lungenentzündungen,<br />

die Rippenfellentzündungen, das Steinsalz — das einzige, was in Deutschland vorhanden war —, von dem die Köche<br />

übermäßigen Gebrauch machten, und das anscheinend schädlich war, weil es kein Jod enthält. Der Ödeme war Legion,<br />

jedermann hatte mehr oder weniger angeschwollene Beine.<br />

"Das geht vorbei", sagte man, "das kommt vom Salz."<br />

Und man achtete nicht besonders darauf. Wenn es sich um ein alltägliches Ödem handelte, kam es vor, daß es vorüberging.<br />

War das Ödem aber die Folge einer Nierenentzündung, so wurde man eines Tages von einer Urämiekrise hinweggerafft.<br />

Der Holländer erreichte, daß die Nierenkranken ebenfalls in das Revier aufgenommen wurden: es mußte ein weiterer Block<br />

gebaut werden.<br />

Dann kamen die Tuberkulosekranken an die Reihe, und so weiter.<br />

Und immer so weiter, bis das Revier am l. Juni 1944 die auf dem Hügel in einer Gruppe liegenden Blocks 16,17, 58, 39,<br />

126,127 und 128 umfaßt. In ihnen können 1500 Kranke, wenn jeder sein Bett hat, untergebracht werden, das heißt, ein<br />

Zehntel der Lagerinsassen. Jeder Block ist in Säle unterteilt, in denen verwandte Krankheiten zusammengefaßt sind.<br />

Block 16 ist das Verwaltungszentrum des ganzen Baukomplexes. Der Holländer ist zum Chefarzt ernannt worden.<br />

Inzwischen hat die SS den grünen Lagerältesten durch einen roten ersetzt und in der Häftlingsführung hat ein großer Kampf<br />

stattgefunden. Der Kapo des Reviers ist das erste Opfer des neuen Lagerältesten gewesen: man hat sich verabredet, ihn zu<br />

überraschen, als er im Begriff war, die Nahrung seiner Kranken zu stehlen und hat ihn zur Strafe nach Ellrich geschickt und<br />

durch Pröll ersetzt.<br />

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-116-<br />

* * *<br />

Pröll ist ein junger Deutscher von 27 bis 28 Jahren. Im Jahre 1954 hat er sich entschlossen, Mediziner zu werden. Als<br />

Sohn eines Kommunisten, und da er selbst Kommunist war, wurde er festgenommen, als er fast noch ein Kind war. Er hat<br />

zehn Jahre in verschiedenen Lagern hinter sich.<br />

Zuerst wurde er nach Dachau geschickt, und nur seinem jugendlichen Alter verdankte er, daß er die Härten des werdenden<br />

Lagers überlebte:<br />

die SS wie auch die Häftlinge verfolgten im allgemeinen die Jugendlichen nicht, die ersteren aus einer gewissen Art Scheu<br />

vor der Unschuld, die zweiten aus einer besonderen Zärtlichkeit, die in ihnen die Hoffnung nährte, zu sehen, daß sie<br />

Lustknaben wurden. Dank dieses doppelten Umstandes gelang es Pröll, als Pfleger ins Revier zu kommen, dort einige Jahre<br />

zu bleiben und dann in dieser Eigenschaft nach Mauthausen geschickt zu werden. Die grüne Häftlingsführung von<br />

Mauthausen entledigte sich seiner zum Nutzen von Auschwitz, das ihn im ersten nach Natzweiler abgehenden Transport<br />

mitschickte. In Natzweiler hatte er seinen längsten Aufenthalt: er wurde Kapo des Lagerkommandos und Vertreter des<br />

Lagerältesten. Die wahrlich nur wenigen Häftlinge, die dieses Lager kennengelernt haben, erklärten übereinstimmend, daß<br />

sie niemals einen ähnlichen Rohling gesehen hätten. Eine Palastrevolution in der Häftlingsführung von Natzweiler<br />

veranlaßte seine Versendung nach Buchenwald, von wo er als Vertrauensmann der Kommunisten und Kapo des Reviers<br />

nach Dora geschickt wurde.<br />

In Dora beträgt Pröll sich wie die anderen Kapos — nicht besser und nicht schlimmer. Da er intelligent ist, organisiert er<br />

das Revier, das aus dem Apostolat des Holländers hervorgegangen ist, der ihn trotz allem als wertvolle Hilfe ansieht, weil<br />

er etwas versteht. Allerdings folgt er nicht immer den sittlichen Geboten der Medizin: er ist brutal und bei der<br />

Zusammensetzung der Armee von Pflegern, die er braucht, um den Betrieb des Unternehmens sicherzustellen, läßt er die<br />

politischen Empfehlungen den beruflichen vorgehen. So hatte auch der Schmied Heinz, der Kommunist war, und dem es<br />

schon unter dem Regiment des grünen Kapos gelungen war, als Oberpfleger in das Revier zu kommen, stets sein volles

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