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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Die Anglo-Amerikaner und Russen hatten es jedoch anders beschlossen, sie trafen am 11. April 1945 ein und befreiten uns.<br />

Seitdem ist Dora wie Buchenwald in den Händen der Russen, die nicht das geringste an ihm geändert haben. In wessen<br />

Händen mag es wohl morgen sein ...<br />

Denn es darf in der Geschichte keine Unterbrechung im Zusammenhang geben.<br />

* * *<br />

Wenn ein Konzentrationslager fertig ausgebaut ist, ist es ein wirkliches Gemeinwesen, das von der Außenwelt, die es<br />

erdacht hat, durch eine Einfriedung von elektrisch geladenem Stacheldraht in fünffacher Höhe isoliert ist, längs deren<br />

ungefähr alle fünfhundert Meter Beobachtungsstände einen bis an die Zähne bewaffneten Wachtposten beherbergen. Damit<br />

die Schranke zwischen ihm und draußen noch unüberbrückbarer ist, wird auch noch ein SS-Lager dazwischen geschoben<br />

und bis auf fünf oder sechs Kilometer im Umkreis werden unsichtbare Wachen auf die Peripherie verteilt; wer da zu fliehen<br />

versuchte, hätte nacheinander eine bestimmte Zahl von Hindernissen zu überwinden, und es darf ruhig gesagt werden, daß<br />

jeder Versuch materiell zum sicheren Scheitern verurteilt ist. Dieses Gemeinwesen hat seine eigenen Gesetze, seine<br />

besonderen sozialen Erscheinungen. Die Gedanken, die dort in der Isolierung oder als Strömungen zutage treten, gehen an<br />

den Stacheldrähten zugrunde; die Außenwelt ahnt von ihnen nichts. Ebenso ist alles, was draußen vorgeht, im Innern<br />

unbekannt, jedes Durchsickern wird durch die Schranke unmöglich gemacht, in der keine Masche zum Durchschlüpfen<br />

vorhanden ist 1 ). Zeitungen kommen: sie sind ausgesucht und bringen nur Wahrheiten, die für die Insassen der<br />

Konzentrationslager besonders gedruckt werden. In der Kriegszeit ist es vorgekommen, daß die Wahrheiten für die<br />

Lagerinsassen dieselben waren, wie jene, auf die die Deutschen sich ihren Vers machen mußten, und deshalb waren die<br />

Zeitungen für beide gemeinsam, aber dies ist reiner Zufall. Rundfunk wird durch die Lagerleitung übermittelt. Daraus ergibt<br />

sich, daß das auf anderen moralischen und soziologischen Grundsätzen beruhende Lagerleben in eine ganz andere Richtung<br />

geht als das normale Leben, daß seine<br />

- 8l-<br />

1) Man hat gesagt, daß fast ganz Deutschland nicht wußte, was in den Lagern vorging, und ich glaube es: die an Ort und Stelle lebenden SS-<br />

Männer wußten einen großen Teil nicht oder hörten von gewissen Vorkommnissen erst lange nachdem sie sich ereignet hatten. Wer aber<br />

kennt andererseits in Frankreich die Einzelheiten aus dem Leben der Häftlinge in Carrere, La Noe und anderen Orten? (Vgl. Seite 157 im<br />

Anhang zu Kap. II, die Beschreibung des Pierre Bemard vom Zentralgefängnis in Riom und die Meinung von E. Kogon, Seite 214).<br />

Kundgebungen eine Gestaltung annehmen, die nicht nach den allen Menschen gemeinsamen Maßstäben beurteilt werden<br />

kann. Aber es ist ein Gemeinwesen, ein Gemeinwesen von Männern.<br />

Im Inneren — oder im Äußeren — ist aber die Nähe einer Fabrik die Lebensgrundlage und das Existenzmittel des Lagers:<br />

in Buchenwald die Gustloffwerke, in Dora der Tunnel. Diese Fabrik ist der Schlüssel für alles, für das gesamte Bauwerk,<br />

und ihre Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen, sind seine ehernen Gesetze. Das Lager ist also für die Fabrik und nicht<br />

die Fabrik zur Beschäftigung des Lagers errichtet.<br />

Die oberste Dienststelle ist die "Arbeitsstatistik", die über alle Lagerinsassen genau Buch führt und ihnen in allen<br />

Einzelheiten und für jeden Tag in ihrer Arbeit nachgeht; bei der Arbeitsstatistik kann man in jedem Augenblick des Tages<br />

angeben, womit jeder Häftling beschäftigt ist und den genauen Ort bezeichnen, an welchem er sich befindet. Diese<br />

Dienststelle wird, wie übrigens alle anderen auch, von Häftlingen verwaltet und beschäftigt ein zahlreiches, relativ<br />

bevorrechtigtes Personal.<br />

Dann folgt die "Politische Abteilung", die die politische Verantwortung für das Lager trägt und imstande ist, über jeden<br />

Häftling jedwede Auskunft, sei es über sein früheres Leben oder seine Moral oder über die Gründe seiner Festnahme usw. ...<br />

zu geben. Sie ist die Anthropometrie 2 ) des Lagers, sein "Sicherheitsdienst", der nur Personen beschäftigt, die das Vertrauen<br />

der SS besitzen. Ebenfalls Bevorrechtigte.<br />

Dann die "Verwaltung", die die allgemeine Buchführung über alles hat, was in das Lager kommt: Lebensmittel, Material,<br />

Kleider usw. ... Sie ist die Intendantur des Lagers, sein Kompaniefeldwebel. Das mit Büroarbeit beschäftigte Personal ist<br />

stets bevorrechtigt.<br />

Diese drei großen Dienststellen geben dem Lager seine Form. An ihrer Spitze steht ein Kapo, der unter der Aufsicht eines<br />

SS-Unteroffiziers oder "Rapportführers" für den Betrieb verantwortlich ist. Ein Rapportführer ist für alle<br />

Schlüsseldienststellen vorhanden, und jeder von ihnen macht jeden Abend seine Meldung an den Hauptrapportführer des<br />

Lagers, einen SS-Offizier, gewöhnlich im Range eines Oberleutnants. Dieser Hauptrapportführer verkehrt mit dem<br />

Häftlingslager über seine Untergebenen und den "Lagerältesten", der die Gesamtverantwortung für das Lager hat und für<br />

seinen guten Betrieb mit allem, einschließlich seines Lebens, haftet.<br />

Parallel hierzu laufen die zweitrangigen Dienststellen: der "Sanitätsdienst", der die Ärzte, die Krankenpfleger, den<br />

Desinfektionsdienst, das Revier und das Krematorium umfaßt; die "Lagerschutzpolizei", die

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