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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Gewandtheit und nicht von seinen Fähigkeiten bestimmt wird: die Rechnungsführer werden als Maurer beschäftigt, die<br />

Zimmerleute sind Rechnungsführer, die Wagner Mediziner und die Mediziner Mechaniker, Elektriker oder Erdarbeiter.<br />

* * *<br />

Jeden Tag kam ein Waggon von zehn Tonnen, beladen mit Paketen aus allen Nationen, außer Spanien und Portugal, am<br />

Bahnhof von Dora an:<br />

abgesehen von seltenen Ausnahmen waren sie alle unversehrt. Bei der Auslieferung an den Empfänger dagegen waren sie<br />

gänzlich oder zu drei Vierteln ausgeraubt. In zahlreichen Fällen erhielt man nur die Aufschrift, die von dem<br />

Inhaltsverzeichnis, einem Stück Rasierseife, einem Seifenstückchen oder einem Kamm usw.... begleitet war. Ein<br />

Kommando von Tschechen und Russen war mit der Entladung des Waggons betraut. Von dort aus brachte man die Pakete<br />

zur Poststelle, wohin die Schreiber und Stubendienste Jedes Blocks kamen, um die Lieferungen in Empfang zu nehmen.<br />

Dann händigte der Blockälteste sie selbst dem Empfänger aus. Aber auch auf diesem begrenzten Wege wurden sie beraubt.<br />

Der Vorgang bei der Beraubung war einfach. Zuerst mußten die französischen Pakete, die für die Reichhaltigkeit ihres<br />

Inhalts bekannt waren, herhalten. Am Entladungsort wurde der Waggon von dem Kapo des Kommandos unter den Augen<br />

eines SS-Mannes, der mit der Aufsicht beauftragt war, geöffnet. Das Paket durchlief drei Hände: aus dem Waggon warf ein<br />

Tscheche es einem Russen am Boden zu, der es im Fluge auffangen und einem anderen Russen oder Tschechen weitergeben<br />

sollte, der den Auftrag hatte, es auf den Wagen zu legen. Von Zeit zu Zeit sagte der Russe des Waggons "Franzus" und der<br />

Tscheche hielt die Hände weg: das Paket fiel zu Boden, wo es auseinanderbrach, sein Inhalt sich über den Boden verstreute,<br />

und Russen wie Tschechen füllten sich die Taschen oder Brotbeutel. Wenn irgendein Gegenstand des ausgeraubten Pakets<br />

ihm gefiel, streckte der SS-Mann die Hand aus und auf diese Weise wurde seine Mittäterschaft erkauft.<br />

Der vollbeladene, von sechs Männern gezogene Wagen setzte sich nach der Poststelle in Bewegung: auf dieser ersten Fahrt<br />

verschwanden zahlreiche Pakete oder wurden ausgeraubt.<br />

Die Lagerordnung schrieb vor, daß die Pakete bei der Poststelle genauestens durchsucht und Medikamente, Wein, Alkohol,<br />

Waffen oder verschiedene Gegenstände, die als Waffen verwendet werden könnten, einbehalten werden sollten. Diese<br />

amtliche Durchsuchung wurde von einer Schar von Häftlingen, Deutschen oder Slawen, unter Aufsicht von zwei oder drei<br />

SS-Männern vorgenommen: neue Entnahmen. Die SS-Männer ließen sich durch ein Stück Speck, eine Tafel Schokolade,<br />

nach der ihre kleine Freundin Verlangen hatte, ein Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug verlocken: sie sicherten sich das<br />

Schweigen der Häftlinge, indem sie die Augen vor den unter ihren Augen begangenen Diebereien schlossen.<br />

Von der Poststelle bis zum Block verständigten sich die Schreiber und Stubendienste, um eine dritte Entnahme<br />

durchzuführen, und am Ende<br />

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des Geschäftsganges stand dann noch der Blockälteste, der die vierte und letzte vornahm, worauf er das Übriggebliebene<br />

dem Empfänger aushändigte.<br />

Das Verfahren der Aushändigung an den Empfänger hatte etwas Unnatürliches an sich. Der Häftling wurde mit seiner<br />

Nummer gerufen und aufgefordert, zum Blockältesten zu kommen. Auf dessen Schreibtisch lag sein Paket offen mit einem<br />

aufgenommenen Inhaltsverzeichnis. Am Fuße des Schreibtisches stand ein großer Korb mit der Aufschrift "Solidarität".<br />

Jeder Häftling war moralisch verpflichtet, etwas von dem, was er erhalten hatte, für diejenigen hineinfallen zu lassen, die<br />

niemals etwas bekamen, hauptsächlich die Russen und Spanier, die Kinder, die Enterbten aller Nationen, die keine Eltern<br />

mehr hatten oder deren Eltern die Anschrift nicht wußten usw.... So sollte es theoretisch sein, in der Praxis aber eignete<br />

sich einzig und allein der Blockälteste das an, was in den Korb gefallen war und teilte es mit seinem Schreiber und den<br />

Stubendiensten.<br />

Nach jedem Eingang waren die SS-Männer, die Kapos, die vom Lagerschütz, die Blockältesten und alle, die irgendwie<br />

einen Dienstgrad in der SS-Führung hatten, reichlich mit französischen Erzeugnissen versehen, was mich zu der<br />

Überzeugung brachte, daß diese Beraubungen die Handlungsweise einer organisierten Bande waren.<br />

Ich erhielt mein erstes Paket am 5. April 1944; es fehlte die gesamte Wäsche, eine Tafel Schokolade, ich glaube eine<br />

Büchse Konserven, aber es blieben drei Päckchen Zigaretten, ein gutes Kilo Speck, eine Butterdose und verschiedene andere<br />

kleine Eßwaren. Wir hatten am Abend vorher den Block gewechselt, wir lagen nun in Block 11 und unser Blockältester<br />

war ein Deutscher mit schwarzem Schildchen. Ich fragte ihn, was ihm gefallen würde:<br />

"Nichts, geh' mal."<br />

Entschlossen reichte ich ihm ein Päckchen Zigaretten, dann befragte ich ihn mit den Augen, indem ich auf den Korb mit der<br />

Inschrift "Solidarität" deutete:

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