DIE LÜGE DES ODYSSEUS
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
schlecht oder gar nicht gelüfteten Galerien Krankheitsstoffe aller Art, Staub von Monaten und Monaten einatmet, und das<br />
Gefahr läuft, noch vor der Befreiung zu sterben. Während man bei der Erdarbeit bei jedem Wetter arbeitet; ob es regnet,<br />
schneit, ob es windig ist, unter bleierner Sonne wie bei Gewitter, niemals wird die Arbeit eingestellt. Mehr noch: auch die<br />
Appelle werden nicht abgeblasen oder abgekürzt. In Regenzeiten ist es bei uns vorgekommen, daß wir vierzehn Tage oder<br />
drei Wochen lang die uns als Kleider dienenden Lumpen nicht trocknen konnten: wenn wir abends zum Block<br />
zurückkamen, legte man sie unter das Stroh oder den Strohsack in der Hoffnung, die Körperwärme werde die Feuchtigkeit<br />
vertreiben, und am anderen Morgen nahm man sie warm, aber feucht, wieder heraus und versank aufs neue im Regen.<br />
Einfache oder doppelte Lungenentzündung herrschte ständig bei den Leuten des Erdarbeitenkommandos und brachten viele<br />
ins Krematorium, aber man lebte wenigstens in frischer Luft. Und während der schönen Jahreszeit . . . Die Meinung ist<br />
geteilt zwischen dem Wunsche, im Tunnel zu arbeiten und dem, bei der Erdarbeit zu bleiben.<br />
"Man müßte im Winter in den Tunnel kommen und im Sommer wieder heraus", sagte Fernand zu mir.<br />
Das war allerdings unmöglich, und ich war nicht sicher, ob es gegebenenfalls eine gute Lösung gewesen wäre.<br />
Was man als Tunnel bezeichnete, war ein System von zwei parallelen Gängen, die den Hügel von der einen bis auf die<br />
andere Seite durchzogen. Am einen Ende lag Dora und am anderen seine Hölle, EIlrich. Diese beiden Hauptgänge, von<br />
denen jeder 4 bis 5 Kilometer lang war, waren durch etwa fünfzig Quergänge oder Hallen von etwa 200 Meter Länge, zu<br />
acht auf acht Meter abgeteilt, verbunden. Jede dieser Hallen beherbergte eine Werkstatt. Im April 1945 war der Tunnel so<br />
weit fertiggestellt, daß er den Höchstertrag hätte leisten können, wenn die Sabotage nicht gewesen wäre. Man schätzt, daß er<br />
in diesem Zeitpunkt im ganzen 15 bis 15 km ausgehobener und ausgebauter Gänge hatte, gegenüber 7 bis 8, die im August<br />
1945 bestanden, als Dora geschaffen wurde: diese beiden Zahlen bezeichnen das Maß an Anstrengungen, das den Häftlingen<br />
auferlegt war. Außerdem muß man berücksichtigen, daß die beiden Lager Dora und EIlrich zusammen niemals einen<br />
größeren Bestand als<br />
15 000 Mann für die Arbeit einsetzen konnten, wobei diese außerdem die Baracken aufstellen und jedes eine festgesetzte<br />
Zahl von V1 und V 2, von Flugzeugmotoren und Waffen zweiten Ranges herstellen mußten. Wollte man übrigens den<br />
Gestehungspreis dieser Arbeit errechnen, so müßte man den Francs oder Mark noch die 20 000 bis 25 000 Menschenleben<br />
hinzurechnen, die dies zumindest in zwei Jahren gekostet hat.<br />
Die Kommandos des Tunnels, die in den Gängen oder den zu Blocks ausgebauten Gangteilen schlafen, werden täglich<br />
zweimal, um 7 Uhr morgens und um 7 Uhr abends je zur Hälfte geweckt. Sie verfügen über wenig Wasser und deshalb ist<br />
die Hygiene mangelhaft. Flöhe und Läuse gedeihen prächtig.<br />
Um 9 Uhr morgens und um 9 Uhr abends, je nach der Schicht, der sie angehören, gehen sie zur Arbeit.<br />
Auch schlechte Kommandos gibt es im Tunnel: die Leute, welche die Gänge bohren, sind für den Transport des Materials<br />
und des Schuttes bestimmt. Sie sind wahre Galeerensklaven, die wie die Fliegen an Lungenvergiftung durch<br />
Ammoniakstaub oder als Opfer der Tuberkulose sterben. Aber die meisten Kommandos sind gut. Die Taylorisierung ist bis<br />
zum äußersten getrieben: ein Kommando verbringt seine Zeit sitzend vor Bohrmaschinen und hält die Stücke nacheinander<br />
unter den Bohrer;<br />
ein anderes prüft Gyroskope 2 ), ein drittes elektrische Kontakte; ein viertes poliert Eisenbleche; ein fünftes besteht aus<br />
Drehern oder Feinmechanikern. Schließlich gibt es auch Kommandos, die weder gut noch schlecht sind: die Männer, die<br />
die V 1 und V 2 montieren. Im allgemeinen gesehen ist der Ausstoß schwach: man verwendet zehn Männer, die<br />
unfreiwillig arbeiten, wo einer oder zwei gutwillige genügen würden. Das härteste ist, daß man immer so tun muß, als<br />
arbeite man, daß man fortgesetzt stehen, sich das Aussehen eines vielbeschäftigten Menschen geben und vor allem in<br />
diesem Lärm, in den Krankheitsstoffen leben muß und die Außenluft nur spärlich durch schlechte und viel zu geringe<br />
Lüftungswege erhält.<br />
Gegen Mitte März begann man auf Ersuchen von Zavatzky, der eine der nach seiner Meinung wesentlichsten Ursachen des<br />
schlechten Ausstoßes beseitigen wollte, die Kommandos im Tunnel am Tage nach oben gegen zu lassen, damit sie ihre<br />
Suppe im Lager einnehmen konnten, anstatt sie hinabzubringen. Ende April, Anfang Mai hatte das Erdarbeitenkommando<br />
beinahe alle vorgesehenen Blocks bis zu Nummer 132 fertiggestellt: man entschloß sich, von nun an niemand mehr im<br />
Tunnel schlafen zu lassen und alle Kommandos nur noch zur Arbeit hinunter und heraufsteigen zu lassen, das heißt also für<br />
12 Stunden täglich.<br />
-102-<br />
-103-<br />
2) Gyroskop = Kreiselvorrichtung zum Nachweis der Achsendrehung der Erde (der Übers.).<br />
Um erschöpfend zu sein, muß noch gesagt werden, daß in den verschiedenen Fabriken des Tunnels auch Zivilarbeiter<br />
beschäftigt werden. Im April 1945 sind es sechs» bis siebentausend: Deutsche, die Meister sind, S. T. 0. oder Freiwillige,