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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Die von mir zitierten Stellen sind wörtlich übertragen. Meist geht ihnen ein persönlicher Kommentar voraus oder folgt<br />

ihnen.<br />

Um einen Vergleich bequemer zu machen, habe ich die Verfasser in drei Gruppen eingeteilt: diejenigen, bei welchen keine<br />

Veranlassung vorlag, zuverlässige Zeugen zu sein, und die ich — natürlich ohne herabsetzende Absicht — minderwichtige<br />

Zeugen nenne; die Psychologen, die Opfer eines etwas zu betonten Hanges für das subjektive Argument; und die<br />

Soziologen, oder Leute, die für solche angesehen werden.<br />

Ich bin auch bei mir selbst vorsichtig, und um nicht beschuldigt zu werden, ich redete von Dingen, die etwas zu sehr<br />

außerhalb meines eigenen Erlebens lägen, um nicht in die Mängel zu verfallen, die ich anderen vorhalte und meinerseits<br />

etwa eine Verdrehung der Regeln geistiger Rechtschaffenheit zu riskieren, habe ich freiwillig darauf verzichtet, ein<br />

vollständiges Bild der Literatur über die Konzentrationslager vorzulegen. Es handelt sich nur um eine "Betrachtung", dies<br />

möchte ich nochmals hervorheben, und sie bezieht sich nur auf Tatsachen oder Argumente, über die ich mir selbst ein<br />

Urteil zu bilden vermochte.<br />

Die Zahl der hier behandelten Autoren ist also zwangsläufig in jeder Gruppe wie im ganzen beschränkt: es sind drei<br />

minderwichtige Zeugen 3 ) (der Abbe Robert Ploton, Bruder Birin von der christlichen Schule in Epernay, Abbe Jean-Paul<br />

Renard), ein Psychologe (David Rousset), ein Soziologe (Eugen Kogon). Nicht eingruppiert: Martin-Chauffier. Ein<br />

günstiger Zufall hat gefügt, daß sie die repräsentativsten sind, wodurch die Darlegung an Klarheit gewinnt und die Wege zu<br />

einer erneuten Beurteilung des Konzentrationslagerproblems besser aufgezeigt werden können.<br />

Der Leser wird natürlich versucht sein, diese Stellungnahmen zu dem großen Drama der Verschickung in Anbetracht ihrer<br />

tragischen Gesamtfolgen auf die Ebene des Menschlichen zu verlagern und aus ihnen vielleicht zu folgern, ich hielte mich<br />

zuviel mit Einzelheiten auf. Wenn ich<br />

-144-<br />

3) Ich bitte, in der Tatsache, daß es drei Priester sind, keine bösartige antiklerikale Absicht zu erblicken.<br />

feststelle, daß die Transporte von Frankreich nach Deutschland mit hundert Mann in Waggons stattfanden, die für höchstens<br />

vierzig Personen bestimmt waren und nicht mit hundertfünfundzwanzig, wie gewisse Leute geschrieben haben, so kann man<br />

einwenden, dies ändere die allgemeinen Reiseverhältnisse nicht merklich. Wenn ich erläutere, daß ein Lager den Namen<br />

Bergen-Belsen trug und nicht Belsen-Bergen, so ändere ich damit bestimmt nichts an dem Schicksal derer, die man dort<br />

internierte. Ob das Wort Kapo aus den Anfangsbuchstaben der deutschen Bezeichnung "Konzentrationslager-Arbeits-<br />

Polizei" gebildet wurde oder ob es von dem italienischen Ausdruck "II Capo" abgeleitet wurde, ist an sich bedeutungslos.<br />

Und die Mißhandlungen, der Hunger, die Folter usw...., ob sie in dem einen oder anderen Lager stattgefunden haben, ob<br />

derjenige, welcher sie berichtet, sie auch gesehen hat oder nicht, ob sie unmittelbare Handlungen der SS waren oder durch<br />

die eingeschalteten ausgesuchten Häftlinge begangen wurden: sie bleiben doch stets schlechte Behandlung.<br />

Meinerseits möchte ich bemerken, daß ein Ganzes aus Einzelheiten zusammengesetzt ist, und daß ein Irrtum im einzelnen,<br />

ob gutgläubig oder absichtlich, nicht nur geeignet ist, die Auslegung durch den Beobachter zu verfälschen, sondern ihn<br />

auch logischerweise dazu führen muß, an allem zu zweifeln, wenn er ihn entdeckt. Insofern es sich um einen Irrtum handelt<br />

nur zu zweifeln, wenn es aber mehrere sind ...<br />

Man wird mich besser verstehen, wenn man sich an eine andere Sache erinnert, die vor einigen Jahren die Zeitgeschichte<br />

belustigte. Kurz vor dem zweiten Weltkriege benutzte ein ausländischer Student eine augenblickliche Unachtsamkeit des<br />

Aufsehers, um aus dem Louvre 4 ) ein Gemälde von Watteau zu entwenden, das unter dem Namen "Der Gleichgültige"<br />

bekannt ist. Einige Tage später brachte er es zurück, oder es wurde bei ihm gefunden; aber er hatte eine kleine Veränderung<br />

an ihm vorgenommen: ihm war die Hand lästig gewesen, die sich in einer Geste erhob, von der alle Fachleute sagten, sie<br />

sei unvollendet; sei es, daß der Meister selbst es so gewollt oder es unterlassen hatte, und deshalb hatte er sie nun auf einen<br />

Stock gestützt. Dieser Stock änderte an der Persönlichkeit nichts. Im Gegenteil, er stimmte mit der ganzen Art und Weise<br />

wunderbar überein. Aber er präzisierte den Sinn ihrer Gleichgültigkeit und veränderte merklich die Erklärung, die man von<br />

ihr als Zweck oder Absicht geben konnte. Ja, man konnte behaupten, diese Erklärung wäre ganz anders ausgefallen, wenn<br />

man anstatt eines Stockes ein Paar Handschuhe in die Hand gelegt oder sie nachlässig über einen Blumenstrauß hätte<br />

gleiten lassen.<br />

-145-<br />

4) Louvre = Als Residenz der französischen Könige im XIII. Jahrhundert begonnen, dient heute als Museum.<br />

Trotzdem man nicht beschwören kann, ob Watteau, wenn schon kein Stock auf dem Bilde existierte, nicht doch ein Paar<br />

Handschuhe oder einen Blumenstrauß beabsichtigt hatte, entfernte man den Stock und hing das Bild wieder an seinen Platz.<br />

Hätte man ihn gelassen, so hätte niemals jemand einen Mißton, weder an dem Gemälde selbst noch am Gesamtbild des<br />

Louvre bemerkt. Hätte unser Student aber, anstatt sich auf die Berichtigung des "Gleichgültigen" zu beschränken, sich die

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