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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Abend begleitet eine Kapelle von etwa dreißig Blasinstrumenten, einer großen Pauke und Schallbecken den Schritt der<br />

Kommandos, die zur Arbeit gehen oder von ihr zurückkommen. Tagsüber übt sie und erfüllt das Lager mit den<br />

ungewöhnlichsten Akkorden. Am Sonntagnachmittag gibt sie bei allgemeiner Gleichgültigkeit Konzerte, während die<br />

Gefangenen Fußball spielen oder Kunststücke am Tauchbecken machen.<br />

Das äußere Aussehen hat sich geändert, die Wirklichkeit aber ist dieselbe geblieben. Die Häftlingsführung ist noch immer,<br />

was sie war: die Politischen sind in ansehnlicher Zahl in sie hineingelangt und anstatt von Kriminellen werden die<br />

Häftlinge nun von Kommunisten oder solchen, die es sein wollen, mißhandelt. Jeder einzelne erhält regelmäßig einen<br />

Lohn: zwei bis fünf Mark pro Woche. Dieser Lohn wird von der Häftlingsführung einkassiert, die ihn allgemein samstags<br />

auf dem Platz der Arbeitsstatistik verteilt, was sie jedoch in der Form eines von ihr organisierten solchen Gewühles tut, daß<br />

seine Forderung gleichbedeutend mit einer Kandidatur für das Krematorium wäre. Nur sehr wenige Mutige<br />

finden sich ein. Die Kapos, Blockältesten und der Lagerschutz teilen sich, was sie nicht zu verteilen brauchen. Es werden<br />

auch Zigaretten verteilt — zwölf Zigaretten für zehn Tage —, die achtzig Pfennige kosten. Geld zum Bezahlen hat man<br />

nicht, und die mit der Verteilung beauftragten Blockältesten fordern von denen, die welches haben, solche Tugenden an<br />

Hygiene und Haltung, daß es fast unmöglich ist, in den Besitz der Zuteilung zu kommen. Schließlich wird auch Bier<br />

verteilt: grundsätzlich an jeden. Aber auch hier muß man bezahlen können. Die Familien der Häftlinge haben die Erlaubnis,<br />

ihnen monatlich 50 Mark zu schicken, die sie aus denselben Gründen ebensowenig erhalten, wie ihren Wochenlohn oder<br />

die Zigaretten. Und dementsprechend haben eines Tages die Leute von der Häftlingsführung beschlossen, sich unsere<br />

Kleider und die sonstigen Dinge zu teilen, die uns bei unserer Ankunft in Buchenwald abgenommen wurden.<br />

Hierzu ist noch zu sagen, daß Tausende und Abertausende von Häftlingen in das Krematorium gewandert sind, entweder<br />

weil sie auf ganz natürliche Weise infolge des Lebens, das sie führen mußten, dorthin gekommen sind, oder weil man sie<br />

aus den verschiedensten Gründen dorthin geschickt hatte, hauptsächlich wegen Sabotage, indem man sich des Weges der<br />

Strafkommandos, des Bunkers und des Galgens bediente. Von März 1944 bis April 1945 ist keine Woche vergangen, in<br />

der nicht drei oder vier wegen Sabotage aufgehängt wurden. Am Ende wurden sie zu zehn und zwanzig vor aller Augen<br />

aufgehängt. Die Vollstreckung fand auf dem Appellplatz in Gegenwart aller statt. Der Galgen wurde aufgestellt, die armen<br />

Sünder kamen mit einem Holzknebel in Form des Gebisses im Mund, die Hände auf dem Rücken, an. Sie stiegen auf einen<br />

Schemel und legten den Kopf in den Henkerknoten. Mit einem Fußtritt stieß der Lagerschutz vom Dienst den Schemel um.<br />

Die Unglücklichen waren nicht sofort tot: sie brauchten vier, fünf, sechs Minuten, um zu sterben. Ein SS-Mann oder zwei<br />

hatten die Überwachung. Wenn alles beendet war, ging die ganze Lagerbesatzung an den am Strick hängenden Leichen<br />

vorüber.<br />

Am 28. Februar 1945 wurden 50 aufgehängt, die zu zehn den Galgen bestiegen. Die ersten zehn legten ihre Köpfe in die<br />

Henkerknoten, die zehn folgenden warteten bei den Schemeln unter Stillgestanden, die letzten zehn standen fünf Schritte<br />

zurück um zu warten, bis sie an der Reihe waren. Am folgenden 8. März wurden 19 aufgehängt: diesmal fand die<br />

Hinrichtung im Tunnel statt und es waren nur die Kommandos im Tunnel Zeuge. Die 19 armen Sünder wurden in einer<br />

Reihe gegenüber der Halle 52 aufgestellt. Ein großer Kran, an welchem 19 Stricke befestigt waren, wurde langsam über ihre<br />

Köpfe herabgelassen. Der Lagerschutz legte die 19 Henkerknoten um, dann wurde der Kran langsam, langsam<br />

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wieder gehoben: o die größer werdenden Augen der Unglücklichen, und die Füße, die suchten, Berührung mit dem Boden<br />

zu halten. Am Palmsonntag wurden 57 gehängt, acht Tage vor der Befreiung, während wir schon den Kanonendonner der<br />

Alliierten ganz nahe hörten und der Kriegsausgang für die SS nicht mehr zweifelhaft sein konnte 3) .<br />

Der Sachverhalt ist folgender: die SS entdeckte selbst eine gewisse Zahl von Sabotageakten (1945 und seit Mitte 1944<br />

konnte keiner mehr innerhalb wie außerhalb des Lagers leben, ohne zu sabotieren), aber die Häftlingsführung meldete ihr<br />

unbarmherzig eine noch größere Zahl. Den richtigen Begriff, was diese Häftlingsführung überhaupt war, bekommt man<br />

erst, wenn man erfährt, daß im Augenblick der Räumungstransporte bei der Befreiung alle zu ihr gehörenden Deutschen,<br />

Rote wie Grüne, uns mit weißen Armbinden und einem geladenen Gewehr unter dem Arm umstellten. Alle Deutschen sage<br />

ich, die von den anderen, den Russen, Polen und Tschechen, deren Dienste nun zu Ende waren, mit neiderfüllten Augen<br />

betrachtet wurden.<br />

Es ist unnütz, sich über die Kosten des Unternehmens an Menschenleben zu verbreiten! Am 1. Juni 1944 bestand die<br />

Belegschaft des Lagers fast ausschließlich aus Leuten, die im März oder später gekommen waren. Man konnte noch sieben<br />

Häftlinge antreffen, deren Nummern zwischen 15 000 und 15 000 lagen: sie waren mit 800 Mann am 28. Juli 1945<br />

gekommen. Dann waren noch etwa ein Dutzend von den zwischen 20 000 und 21 000 liegenden Nummern vorhanden: sie<br />

gehörten zu den 1500 Mann, die im Oktober gekommen waren. Von den 800 in Betracht kommenden der Nummern 50<br />

000 bis 51 000, die im Dezember« Januar gekommen waren, blieben etwa 55, von den 1200 der Nummern 50 000 bis 40

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