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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Der Gesundheitszustand im Lager ist sehr gut. An der Spitze stellt Professor Richet, ein<br />

Verschickter. Ärztliche Visite jeden Tag. Es sind zahlreiche Ärzte vorhanden, eine Krankenstube<br />

und ein Krankenhaus, wie bei einem Regiment. Die Internierten tra-<br />

gen die Kleidung der deutschen Strafgefangenen in relativ warmem Kunsttuch. Ihre Wäsche ist bei<br />

der Ankunft desinfiziert worden. Sie haben zu je zwei Mann eine Decke.<br />

Im Lager gibt es keine Kirche. Dennoch sind zahlreiche Priester unter den Internierten, die im<br />

allgemeinen aber ihre Eigenschaft verbergen. Diese Priester versammeln die Gläubigen zu<br />

Plaudereien, zum Beten des Rosenkranzes usw. . . .<br />

Freizeit. — Vollkommene Freiheit im Lager am Sonntagnachmittag. Der Abend dieses Tages<br />

wird durch Vorstellungen verschönt, die von einer aus Internierten gebildeten Theatergruppe<br />

dargeboten werden. Kino ein- oder zweimal je Woche (deutsche Filme), Rundfunk in jeder Baracke<br />

(deutsche Mitteilungen). Schöne Konzerte, die vom Orchester der Gefangenen veranstaltet werden.<br />

Alle Gefangenen sind sich darüber einig, daß sie es in Weimar besser haben, als in Fresnes oder<br />

den anderen französischen Gefängnissen.<br />

Wir teilen den Familien der Verschicken mit, daß der alliierte Bombenangriff auf die Fabriken<br />

von Weimar, der gegen Ende August stattfand, keine Opfer unter den Verschickten gefordert hat.<br />

Wir teilen auch mit, daß die meisten von Compiegne und Fresnes im August 1944 abgegangenen<br />

Züge nach 'Weimar geleitet wurden."<br />

Jean Puissant, der diesen Text zitiert, läßt ihm nachstehendes Werturteil folgen: ein Monument an Betrug und Lügen.<br />

Offenbar ist er in günstigem Stil geschrieben. Man sagt nicht, daß die mechanischen Einzelteile, die man in den<br />

Werkstätten von Buchenwald herstellt, Waffen sind. Es wird in ihm nicht von den Erhängungen wegen Sabotage, den<br />

Appellen und Nachappellen, den Arbeitsverhältnissen, den Körperstrafen gesprochen. Es ist darin auch nicht erläutert, daß<br />

die Freiheit am Sonntagnachmittag durch die Zufälligkeiten des Lebens in der Unterkunft begrenzt ist, noch daß die<br />

Priester, wenn sie die Gläubigen zu Plaudereien oder Gebeten vereinigen, dies heimlich und unter der Gefahr unerbittlicher<br />

Verdrießlichkeiten tun, daß die Atmosphäre Komplotten gleichen könnte. Man lügt auch, wenn man behauptet, die<br />

Verschickten seien dort bessergestellt wie in französischen Gefängnissen, daß der Bombenangriff vom August 1944 keine<br />

Opfer unter den Internierten gefordert hätte, oder daß die meisten Züge aus Fresnes oder Compiegne nach Weimar geleitet<br />

worden seien.<br />

Aber wie dem auch sei, dieses Schreiben kommt der Wahrheit näher als die Aussage des Bruder Birin, hauptsächlich in<br />

bezug auf die Ernäh-<br />

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rung. Und schließlich ist es eine Zusammenfassung der Lagerordnung, wie sie in den leitenden Kreisen des Nazismus<br />

aufgestellt wurde. Daß sie nicht zur Anwendung kam, ist gewiß. Die Geschichte wird berichten, warum. Wahrscheinlich<br />

wird sie den Krieg als die Hauptursache herausstellen, die grundsatzmäßige Verwaltung der Lager durch die Häftlinge selbst<br />

und auch die Verschlechterungen, die in einer stufenweise eingeteilten Verwaltung alle von der Leitung nach unten<br />

gehenden Anordnungen erleiden. Beim Regiment ist es ebenso, die Befehle des Obersten laufen an die Truppe durch den<br />

Adjutanten, und die Verantwortung für die Ausführung obliegt dem Gefreiten: in einer Kaserne weiß jeder, daß der<br />

Gefährliche der Adjutant ist und nicht der Oberst. Und ebenso ist es in Frankreich mit den Verordnungen der öffentlichen<br />

Verwaltungen, die die Kolonien betreffen: sie sind in einem Geist abgefaßt, der jenem Lebensbild entspricht, das alle Lehrer<br />

aller Dorfschulen entwerfen; sie heben die zivilisatorische Mission Frankreichs hervor und man muß nur die Schriften von<br />

Louis Ferdinand Celine, Julien Blanc oder Felicien Challaye lesen, um eine genaue Vorstellung von dem Leben zu<br />

bekommen, das die Militärs unseres Kolonialreiches den eingeborenen Zivilisten auf Rechnung der Kolonisten bereiten.<br />

Für meinen Teil bin ich davon überzeugt, daß in den durch den Krieg bedingten Grenzen nichts die uns verwaltenden und<br />

kommandierenden, uns überwachenden und unseren äußeren Rahmen bildenden Häftlinge daran hätte hindern können, aus

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