DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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Kommunisten wahrhaftig geglaubt haben oder andere, die geträumt haben, mit dem Rußland der Sowjets sei eine Entente<br />
zur Herbeiführung eines brüderlichen und in der Freiheit gerechten Weltfriedens möglich, ferner diejenigen, welche eine<br />
Dankesschuld abgetragen haben sowie jene, die das Fähnchen nach dem Wind gehängt und gewisse Dinge gesagt haben,<br />
weil es gerade so Mode war usw. . . . usw. . . . Dazu noch jene, die geglaubt haben, der Kommunismus werde Europa<br />
überfluten, und die es für geboten hielten, einige Vorkehrungen für die Zukunft zu treffen, nachdem sie ihn in den<br />
Konzentrationslagern am Werke gesehen hatten.<br />
Wieder einmal hat die Geschichte die kleinen Heucheleien auf dem Gebiet menschlicher Vorstellungen lächerlich gemacht.<br />
Sie ist ihren Weg weitergegangen und jetzt muß man sich ihr anpassen. Die Schwenkung in der Gesinnung wird nicht<br />
leichtfallen und nicht die geringste Arbeit sein.<br />
Zu bestimmen bleibt die Bedeutung der Geschehnisse nach ihrem materiellen Wesen und die Beurteilung der<br />
Zweckmäßigkeit dieses Werkes. In einem Artikel 2 ) der Aufsehen erregte, haben Jean-Paul Sartre und Merleau-Ponty<br />
fertiggebracht, folgendes zu schreiben:<br />
". . . beim Durchlesen von Aussagen ehemaliger Häftlinge findet man in den sowjetischen Lagern<br />
nicht jenen Sadismus, jene Religion des Todes, jenen Nihilismus — die widersinnigerweise an<br />
genau bestimmte Interessen gebunden und, mit ihnen bald, einig sind, bald im Kampfe liegen — die<br />
letztlich zu den Vernichtungslagern der Nazis geführt haben."<br />
Nimmt man diese Version an, die durch eine einheitliche Mitschuld der Aussagen über die deutschen Konzentrationslager<br />
zur amtlichen Meinung geworden ist, dann muß man auch zugeben, daß Sartre und Merleau-Ponty Recht haben. Dann sieht<br />
man, wozu dies führen kann, sowohl in der Beurteilung des russischen Regimes, als auch bei der<br />
Prüfung des Problems der Konzentrationslager an sich.<br />
Greift man auf die reine Vernunft zurück und erhebt man philosophische oder doktrinäre Einwände, so verfällt man leicht in<br />
die Rhetorik und wird sehr verwundbar. Die Rhetorik neigt leicht zu Trugschlüssen, zu Urteilen nach der schlechten Seite<br />
hin und zu Abschweifungen. So verführerisch ihre stets bestreitbaren Zierereien auch sein mögen, zu<br />
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2) "Die Tage unseres Lebens" — "Temps modernes" — (Januar 1950).<br />
überzeugen vermögen sie nur selten. Und ihre ausschließlich spekulativen abstrakten Begriffe leuchten um so weniger ein,<br />
nach je strengeren Methoden sie vorgehen.<br />
Daher haben Urteile des gesunden Menschenverstandes ein anderes Gewicht als solche der Schulweisheit, obwohl sie im<br />
Absoluten oder Wesentlichen von geringerem Werte sind.<br />
Wollte man die von den deutschen Lagern gelieferte Gelegenheit ergreifen, um das Problem der Zwangsarbeit, hauptsächlich<br />
in den Kolonien, aufzuwerfen, so erweitert dies zwar die Debatte, doch kann dies offenbar nicht nachteilig wirken, ganz im<br />
Gegenteil. Aber eine Diskussion über das ganze russische oder das ganze amerikanische System brächte es schon vom<br />
richtigen Wege ab. Wollte man erst bis zu den Meinungsverschiedenheiten vordringen, die sie trennen, zu den<br />
Zusammenhängen, die zwischen ihnen bestehen und zur sozialen Ungerechtigkeit im allgemeinen, dann hieße es, dieses<br />
Problem auf ein ganz anderes Gebiet zu verlagern, und dann könnte nichts mehr verhindern, daß es wie Wasser im Sande in<br />
endlosen Abhandlungen über den dritten Weltkrieg oder über die Passagierklassen in der Eisenbahn versickert. Womit<br />
bewiesen sein dürfte, daß, wenn der Gegenstand schon keine geographische Einschränkung zuläßt, eine solche sich<br />
zumindest doch aufdrängt: jene nämlich, die es ausschließlich zu einer Angelegenheit der Verschickungen, der<br />
Konzentrationslager und der Zwangsarbeit macht.<br />
Im Rahmen dieser Betrachtungen, die die Grenzen der möglichen Streitfragen auf ihre äußeren Enden verlagern, ist es<br />
vielleicht nicht gleichgültig, allen anderen voraus bei den materiellen Aspekten des Problems zu verweilen.<br />
* * *<br />
Die von gewissen bestreitbaren Berichten, die meist wohl mehr Auslegungen als Aussagen sind, in Frankreich seit der<br />
Befreiung geschaffene Psychose erlaubt zweifellos, fast ohne nachteilige Folgen zu schreiben:<br />
". . . liest man die Aussagen ehemaliger Häftlinge, so findet man in den sowjetischen Lagern nicht<br />
den Sadismus usw. . . . usw. ., . 3 )"<br />
Aber diese Psychose sichert nur denjenigen die Gewissensruhe, bei denen allgemein die Stellungnahme jedem<br />
Nachdenken vorausgeht, und die obendrein weder die eine noch die andere der beiden Erfahrungen gemacht haben.<br />
Einerseits kann es nicht unbemerkt bleiben, daß in Frankreich und der Welt des Westens die aus den Sowjetlagern Davon-