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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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KAPITEL II<br />

Die Kreise der Hölle<br />

Am 50. Juni 1957 war Buchenwald noch das, was sein Name besagt:<br />

die Ortsbezeichnung für einen Buchenhain auf dem Gipfel eines Hügels in den Ausläufern des Harzes, neun Kilometer von<br />

Weimar entfernt. Man gelangte auf einem felsigen und sich schlängelnden Pfad dorthin. Eines Tages kamen Männer in<br />

einem Wagen bis an den Fuß des Hügels. Sie erstiegen den Gipfel zu Fuß wie auf einem Ausfluge. Sie haben den Ort genau<br />

besichtigt. Einer von ihnen hat eine Lichtung bezeichnet, dann sind sie wieder zurückgefahren, nachdem sie auf der<br />

Rückfahrt durch Weimar ein gutes Frühstück eingenommen hatten. "Unser Führer wird zufrieden sein", haben sie erklärt.<br />

Einige Zeit später sind andere gekommen. Sie waren zu fünfen aneinander gekettet und bestanden aus einer Abteilung von<br />

hundert Mann, umgeben von etwa zwanzig SS-Männern mit der Waffe in der Faust: in den deutschen Gefängnissen war<br />

kein Platz mehr. Sie haben den Pfad unter Beschimpfungen und Schlägen erklommen so gut sie konnten. Entkräftet auf dem<br />

Gipfel angelangt, wurden sie ohne Übergang zur Arbeit eingesetzt. Eine Gruppe von fünfzig Mann hat Zelte für die SS<br />

aufgeschlagen, während die andere einen Stacheldrahtkreis, drei Stufen hoch, von etwa hundert Meter Durchmesser<br />

aufgestellt hat. Dies war alles, was am ersten Tage getan werden konnte. In Eile, fast ohne die Arbeit zu unterbrechen, hat<br />

man ein mageres Brotstückchen gegessen und spät am Abend ist man auf demselben Boden eingeschlafen, in eine winzige<br />

Decke eingerollt. Am anderen Tage hat die erste Gruppe von fünfzig Mann den ganzen Tag über Baumaterial, die Holzteile<br />

der Baracken abgeladen, nachdem es schweren Traktoren gelungen war, sie bis zur halben Höhe des Hügels<br />

hinaufzubringen; weiter hinauf haben sie sie dann auf dem Menschenrücken bis zum Gipfel innerhalb des Stacheldrahtes<br />

gebracht. Die zweite Gruppe hat Bäume gefällt, um freien Raum zu schaffen. An diesem Tage gab es nichts zu essen, denn<br />

man<br />

hatte nur für einen Tag Lebensmittel mitgenommen, aber in der Nacht hat man unter den Reisern zwischen den<br />

Bretterstapeln besser geschlafen.<br />

Vom dritten Tage an kamen die Barackenteile in beschleunigterem Tempo an und häuften sich auf der Mitte des Hanges.<br />

Darunter befanden sich auch eine Kücheneinrichtung, zahlreiche gestreifte Anzüge, Werkzeuge und einige Lebensmittel. In<br />

ihrer täglichen Meldung hatte die SS hervorgehoben, daß es mit hundert Mann nicht gelingen werde, das ankommende<br />

Material Zug um Zug zu entladen: es wurden weitere geschickt. Die Lebensmittel haben nicht mehr ausgereicht. Am Ende<br />

der Woche plagten sich fünfzig SS-Männer mit einem guten Tausend Häftlingen ab, die sie für die Nacht nicht<br />

unterzubringen wußten, die sie kaum beköstigen konnten und deren Zahl ihnen bei der Organisation der Arbeit über die<br />

Köpfe wuchs. Sie hatten mehrere Gruppen oder Kommandos gebildet und jedem eine besondere Aufgabe zugewiesen:<br />

zuerst die Küche für die SS und die Unterhaltung ihres Lagers, die Küche für die Häftlinge, das Aufschlagen der Baracken,<br />

den Transport des Materials, die innere Einrichtung und die Buchhaltung. Dies alles hieß SS-Küche, Häftlingsküche,<br />

Barackenkommando, Bauleitung, Arbeitsstatistik usw. . . . und, zu Papier gebracht und nach den Berichten, bedeutete es<br />

eine klare und methodische Organisation. Tatsächlich aber war es ein großes Durcheinander, ein schreckliches Gewimmel<br />

von Menschen, die zum Scheine aßen, umsonst arbeiteten und kaum zugedeckt in einem Stapel von Brettern und Reisig<br />

schliefen. Da sie bei der Arbeit leichter zu übersehen waren als im Schlafe, währte die Arbeitszeit zwölf, vierzehn und<br />

sechzehn Stunden. Weil die Bewachungsmannschaften nicht ausreichten, mußten sie sich durch ausgewählte Hilfskräfte<br />

vervollständigen, die sie aus der Häftlingsmasse je nach ihrer Haltung heraussuchten: und da sie sich innerlich bedrückt<br />

fühlten, ließen sie den Terror als Entschuldigung und Rechtfertigung herrschen. Es regnete Schläge und nicht nur<br />

Beschimpfungen und Drohungen.<br />

Die schlechte Behandlung, die schlechte und unzureichende Ernährung, die übermenschliche Arbeit, das Fehlen von<br />

Medikamenten, die Lungenentzündung führten dazu, daß diese Gemeinde in erschreckendem und für die Gesundheitspflege<br />

gefährlichem Rhythmus zu sterben begann. Es mußte daran gedacht werden, die Leichen auf andere Weise fortzuschaffen als<br />

durch Beerdigung, die zuviel Zeit in Anspruch nahm und zu oft wiederholt werden mußte: man griff auf die raschere und<br />

den germanischen Traditionen angemessenere Einäscherung zurück. Damit wurde ein neues Kommando unentbehrlich, das<br />

"Totenkommando" und die Aufstellung eines Einäscherungsofens für Leichen stand auf der Liste der Arbeiten, die<br />

vordringlich auszuführen waren, weil die Verhältnisse es<br />

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