28.10.2014 Aufrufe

DIE LÜGE DES ODYSSEUS

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Der Arbeiter bei irgendeinem Kommando konnte nicht stehlen: der Kapo und der Vorarbeiter überwachten ihn genau und<br />

waren stets bereit, ihn anzuzeigen. Er konnte höchstens, wenn die Verteilung der Verpflegung erfolgt war, versuchen, seinen<br />

Leidensgefährten etwas wegzunehmen. Der Kapo aber und der Vorarbeiter konnten im gegenseitigen Einverständnis vor der<br />

Verteilung aus der Gesamtration wegnehmen und taten es in zynischer Weise. Sogar ungestraft, weil es unmöglich war, sie<br />

außerhalb des Dienstweges, das heißt also über sie selbst, anzuzeigen. Sie stahlen für sich und ihre Freunde, für die<br />

vorgesetzten Funktionäre, denen sie ihre Posten verdankten und in den höheren Dienststellen für die SS, deren sie sich<br />

versichern oder deren Schutz sie sich erhalten wollten.<br />

Von der Diät der Kranken nahm der Kapo des Reviers — es ist derselbe, der die Genauigkeit und Objektivität von Kogons<br />

Aussage sanktioniert hat! — im voraus eine ungeheure Menge für seine Kollegen und die akkreditierten Kommunisten 9 )<br />

fort. Während meines Aufenthaltes in Buchenwald hielt er jeden Morgen eine Menge Milch, etwa einen Liter, und<br />

gelegentlich einige andere Leckerbissen für den Blockältesten Erich vom Block 48 zurück. Überträgt man dieses Verfahren<br />

auf das ganze Lager, so kann man sich die Menge Milch vorstellen, die den Revierkranken auf diese Weise entzogen wurde.<br />

Im Vergleich hierzu waren die kleinen Räubereien auf dem Zuteilungsweg unbedeutend.<br />

*) Anm. d. V.: Eine Bezeichnung, die mit dem in Deutschland volkstümlichen Ausdruck "organisieren" zu vergleichen ist.<br />

9) Viele Kommunisten waren dies aber auch nicht — nämlich diejenigen, die vor allem anständige Menschen waren. Sie gingen in der Masse<br />

unter und teilten das gemeinsame Los.<br />

Für ihr Verhungern hatten die Häftlinge also zwei Ursachen, die sich ergänzten, ob es sich nun um die gewöhnliche<br />

Verpflegung oder die Diätkost, ob es sich um Kranke oder Nichtkranke handelte: die Vorwegnahmen der SS 10 ) und die der<br />

Häftlingsführung. sie hatten daher auch zwei Gründe, aus denen sie geschlagen und ganz allgemein schlecht behandelt<br />

wurden. Unter diesen Umständen fanden sich nur wenige Häftlinge, die es nicht vorgezogen hätten, unmittelbar mit der SS<br />

zu tun zu haben: der Kapo, der über das Maß hinaus stahl, schlug auch stärker, um der SS zu gefallen; es war selten, daß<br />

ein einfacher Verweis durch einen SS-Mann nicht eine zusätzliche Tracht Prügel durch den Kapo nach sich zog.<br />

Die Argumente.<br />

Die Argumente, die die Praxis der Rettung eines Kerns vor allem anderen und um jeden Preis rechtfertigen, sind nicht<br />

beweiskräftiger als die Tatsachen.<br />

"Was wäre aus dem ganzen Lager bei der Befreiung geworden?" (Seite 275)<br />

fragt sich Kogon schreckerfüllt. Aus dem zuvor Gesagten geht schon hervor, daß das ganze Lager nur einen Grund weniger<br />

gehabt hätte, nach diesem Rhythmus zu "krepieren". Es genügt nicht, hinzuzufügen:<br />

"So fanden die ersten amerikanischen Panzer, die vom Nordwesten her anrollten, das befreite.<br />

Buchenwald vor." (Seite 304)<br />

und dann das Verdienst, daß dies so kam, der Häftlingsführung zuzuschreiben. Bei solcher Betrachtungsweise könnte man<br />

auch sagen, sie seien in ein befreites Frankreich eingezogen, was lächerlich wäre. Die Wahrheit ist, daß die SS vor der<br />

Ankunft der Amerikaner ausgewichen war, und daß sie in der Absicht, so viele Häftlinge wie nur möglich mit sich zu<br />

nehmen, die Häftlingsführung mit dem Gummiknüppel in der Hand auf die Jagd nach Menschen im Lager geschickt hatte.<br />

Dem ist zu danken, daß sich das Unternehmen in einem Minimum an Unordnung vollzogen hat. Und wenn die Offensive<br />

der Amerikaner durch ein zufälliges Wunder vor dem Lager aufgehalten worden wäre, wenn nämlich eine scharf geführte<br />

Gegenoffensive der Deutschen über den Kriegsausgang in einem anderen Sinne hätte entscheiden können, so hätte die in<br />

folgenden Zeilen durchscheinende Überlegung einen gewissen Vorteil geboten:<br />

-208-<br />

-209-<br />

"Die SS-Lagerleitungen waren nicht imstande, Zehntausende von Häftlingen anders als rein<br />

äußerlich und durch plötzliche Eingriffe zu kontrollieren." (Seite 275.)<br />

10) Hierzu muß bemerkt werden, daß die SS allgemein nicht vorwegnahm oder höchstens sehr zurückhaltend: sie ließ vorwegnehmen und<br />

wurde so besser bedient.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!