DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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"Brauch ' nicht! Geh' mal, blöder Kerl!"<br />
Ich hatte richtig getippt. Am übernächsten Tag wurde ich wieder gerufen:<br />
diesmal waren es drei Pakete. Von einem war nur noch die Aufschrift da, aber die beiden anderen waren fast unberührt, in<br />
einem von ihnen befand sich ein riesiges Stück Speck.<br />
"Dein Messer", sage ich zum Blockältesten.<br />
Ich schneide gut die Hälfte ab, die ich ihm hinreiche, dann frage ich mich, ob ich noch etwas der "Solidarität" dalassen soll.<br />
Er sieht mir, als<br />
ich weggehe, mit aufgerissenen Augen nach: die Franzosen standen ja in dem übrigens gerechtfertigten Ruf, sehr auf ihre<br />
Pakete bedacht und wenig gebefreudig zu sein. Plötzlich ruft er mich zurück:<br />
"Deine Nummer?"<br />
Er schreibt sie auf, dann:<br />
"Hör' mal, Kamerad, deine Pakete werden nie mehr bestohlen werden", sagte er zu mir. "Das sage ich. Geh' mal jetzt!"<br />
In der Tat, von diesem Tage an wurden mir alle meine Pakete fast unversehrt ausgeliefert: der Blockälteste hatte meine<br />
Nummer an die verschiedenen Stadien der Ausplünderung mit dem Befehl durchgegeben "nicht anrühren". Dem verdanke<br />
ich, daß ich mein Leben gerettet habe, denn die aus Frankreich gekommenen Pakete waren außer dem Zuschuß, den sie zur<br />
Lagerbeköstigung leisteten, ein wertvolles Tauschmittel, mit dem man sich Arbeitsbefreiungen, zusätzliche<br />
Bekleidungsstücke und Druckposten verschaffen konnte. Sie haben mir ermöglicht, etwa acht Monate im Revier zu<br />
verbringen, während andere, genauso Kranke, Leibesübungen machen mußten, an denen sie gestorben sind ...<br />
Bei den Paketen hat sich noch eine andere tragische Erscheinung herausgestellt: die meisten Franzosen, auch aus recht<br />
wohlhabenden Familien, erhielten ein Paket, das bis zu drei Vierteln beraubt war, und dann nichts mehr. Bei der Befreiung<br />
bekam ich dann die Erklärung dafür: bei der Ankunft im Lager schrieben die Häftlinge einmal ihrer Familie und<br />
benachrichtigten sie dabei, daß sie monatlich zweimal schreiben dürften. Die Familie schickte ein Paket, und da dieses das<br />
erste war, wartete sie mit der Absendung des zweiten bis zur Bestätigung des ersten, die aber niemals kam, denn mit<br />
Ausnahme des ersten Briefes erreichte von zehn Briefen, die wir schrieben, nur einer seinen Bestimmungsort. Im Lager<br />
fragte sich der regelmäßig schreibende Häftling, was los sei, und während er an Entkräftung starb, war seine Familie in<br />
Frankreich überzeugt, es sei nicht nötig, ihm ein zweites Paket zu schicken, da er den Erhalt des ersten nicht bestätigt hatte,<br />
sicher sei er tot. Meine Frau, die mir jeden Tag regelmäßig ein Paket schickte, sagte mir, daß sie dies nur zur Beruhigung<br />
ihres Gewissens getan habe und zwar entgegen jeder Hoffnung, da es meiner Mutter mit dieser Erwägung gelungen war, sie<br />
zu überzeugen, sie schicke sie an einen Toten ab, und außer dem gewissen Schmerz sei dies noch verlorenes Geld.<br />
Am 1. Juni 1944 ist das Lager nicht mehr zu erkennen. Seit dem 15. März sind unaufhörlich ein- oder zweimal wöchentlich<br />
Transporte (von 800, 1000, 1500) gekommen, und die Belegung ist auf<br />
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etwa 15 000 Köpfe gestiegen. Daß sie diese Zahl nicht überschritt, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß der Tod in einem<br />
der Gesamtzahl der Zugange angepaßten Verhältnis seine Sensenarbeit getan hat: jeden Tag nahmen fünfzig bis achtzig<br />
Leichen den Weg zum Krematorium. Die Häftlingsführung umfaßt allein ein Zehntel der Belegschaft des Lagers:<br />
vierzehn» bis achtzehnhundert allmächtige und ihrer Bedeutung bewußte Nichtstuer regieren über das niedere Volk, indem<br />
sie nach Beheben Zigaretten rauchen, Suppen essen und Bier trinken.<br />
Man ist dabei, den Block 141 aufzubauen, der bestimmt ist, Theaterkino zu werden; und das Bordell ist bereit, Frauen<br />
aufzunehmen. Alle Blocks sind geometrisch und angenehm auf dem Hügel verteilt und durch betonierte Straßen miteinander<br />
verbunden. Zementtreppen mit Geländern führen zu den höchstgelegenen Blocks. Vor jedem eine Pergola mit<br />
Schlingpflanzen, kleine Gärtchen mit Blumenrasen, hier und da kleine Rondells mit Springbrunnen oder kleinen Statuen.<br />
Der Appellplatz, etwa einen halben Quadratkilometer groß, vollkommen gepflastert und so sauber, daß man keine<br />
Stecknadel verlieren kann.<br />
Ein zentral gelegener Fischteich mit Tauchbecken, ein Sportgelände, kühle Schattenanlagen, wie man sie nur wünschen<br />
kann, ein wahres Lager für Ferienkolonien; und irgendein Passant, der während der Abwesenheit der Häftlinge zur<br />
Besichtigung zugelassen würde, verließe es in der Überzeugung, daß man dort ein angenehmes und beneidenswertes Leben<br />
voller Waldpoesie führt, das auf alle Fälle außerhalb jedes alltäglichen Vergleiches mit den Beschwernissen des Krieges<br />
liegt, die das Los der freien Menschen sind. Die SS hat die Bildung einer Musikkapelle gestattet. Jeden Morgen und jeden