DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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Bevor ich das mir zugeteilte Bett beziehen konnte, mußte ich am Eingang noch meine Kleider und Schuhe abgeben, die<br />
während meines Aufenthaltes natürlich gestohlen wurden, und eine einzelne Dusche nehmen, die ein polnischer Kalfaktor so<br />
kalt verabfolgte wie er nur konnte.<br />
Die Dusche war die letzte noch zu erfüllende Formalität. Sie war warm vorgesehen, aber wenn es sich nicht um einen<br />
Tschechen oder einen Polen oder einen Deutschen handelte, schwor der Kalfaktor bei allen Göttern, daß der Apparat in<br />
Unordnung sei. Die Zahl der mit Lungen- oder Rippenfellentzündung aufgenommenen Kranken, die hieran gestorben sind,<br />
ist nicht zu errechnen.<br />
Ich hatte sechs Aufenthalte im Revier: vom 8. bis 27. April, vom 5. Mai bis 50. August, vom 7. September bis 2.<br />
Oktober, vom 10. Oktober bis 3. November, vom 6. November bis 23. Dezember und vom<br />
10. März 1945 bis zur Befreiung. Vom ersten an habe ich Fernand aus den Augen verloren, der mit einem Transport nach<br />
Ellrich geschickt wurde, wo er gestorben ist...<br />
Ich war krank, das ist selbstverständlich, schwer krank sogar, denn ich bin es jetzt noch, aber ...<br />
* * *<br />
Das Leben im Revier ist bis ins kleinste geregelt.<br />
Täglich Wecken um fünf Uhr dreißig, eine Stunde nach dem Wecken im Lager. Toilette: welcher Krankengruppe man auch<br />
angehört, ob mit 40 Grad oder mit 37, man muß aufstehen, zum Waschraum gehen und bei der Rückkehr sein Bett<br />
machen. Grundsätzlich sind Pfleger und Kalfaktor dafür da, denjenigen zu helfen, die dies nicht können, aber von seltenen<br />
Ausnahmen abgesehen beschränken sie sich unter Androhung von Schlägen darauf, die Kranken aufzufordern, diese<br />
Besorgungen selbst vorzunehmen.<br />
Wenn die erste Arbeit getan ist, nimmt der Pfleger die Temperatur, während der Kalfaktor den Saal mit viel Wasser reinigt.<br />
Gegen sieben Uhr geht der Blockarzt zwischen den Betten hindurch, betrachtet die Temperaturblätter, hört die<br />
Bemerkungen des Pflegers, die Beschwerden der Kranken an, sagt einem jeden ein Wort, verordnet Sonderbehandlungen<br />
oder während des Tages einzunehmende Medikamente. Ist der Arzt weder Pole noch Deutscher noch Tscheche, so ist er im<br />
allgemeinen ein guter und verständnisvoller Mensch. Vielleicht vertraut er dem Pfleger etwas zu sehr, der von sich aus die<br />
Kranken nach ihren politischen Meinungen, nach ihrer Nationalität, ihren Berufen oder den Paketen, die sie empfangen,<br />
bewertet, aber er läßt sich trotzdem selten von ihm im schlechten Sinne beeinflussen, dagegen stets im guten. Ein<br />
Schwerkranker wagt manchmal eine Frage:<br />
"Krematorium?" "Ja, sicher ... Drei, vier Tage!"<br />
Man lacht. Er geht, ohne sich um die Wirkung zu bekümmern, die seine Antwort auf den Frager ausgeübt hat. Er kommt<br />
beim letzten Bett an, verläßt den Saal, dies ist vorbei, man wird ihn den ganzen Tag nicht wiedersehen: bis morgen.<br />
Um 9 Uhr Verteilung der Medikamente. Dies geht sehr rasch: Medikamente sind Ruhe oder Diät — von Zeit zu Zeit eine<br />
Tablette Aspirin oder Pyramiden, die sehr sparsam verschrieben werden.<br />
Um 11 Uhr die Suppe: Pfleger und Kalfaktor essen reichlich, bedienen sich von jeder Speiseform und verteilen den Rest an<br />
die Kranken. Dies<br />
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ist nicht ernst, denn es bleibt genug, um jedem eine anständige regelmäßige Portion zu sichern, ja Freunden noch einen<br />
kleinen Zusatz zu geben.<br />
Am Nachmittag ruht man bis 16 Uhr, worauf die Unterhaltungen in Gang kommen, bis zum Messen der Temperatur und<br />
dem Verlöschen der Lampen. Sie werden nur unterbrochen, wenn unsere Aufmerksamkeit in besonderem Maße von langen<br />
Reihen von Leichen in Anspruch genommen wird, die von den Leuten des Totenkommandos unter unseren Fenstern vorbei<br />
nach dem Krematorium getragen werden.<br />
Einige Begünstigte, zu denen auch ich gehöre, erhalten Pakete: sie sind etwas mehr ausgeraubt als im Lager, weil sie noch<br />
eine Station mehr zu durchlaufen haben, bevor sie an den Empfänger gelangen. Der Tabak, den sie enthalten, wird nicht<br />
ausgehändigt: er wird am Eingang beim Pfleger verwahrt, aber die Pfleger sind Leute, mit denen sich über ein anständiges<br />
Honorar auskommen läßt, eine gerechte Teilung, und man kann auch seinen Tabak bekommen und die Erlaubnis,<br />
verstohlenerweise zu rauchen. Durch dasselbe Verfahren, indem der Rest geteilt wird, erreicht man bei dem Pfleger, daß<br />
dieser bei den Temperaturen schwindelt und man seinen Aufenthalt im Revier verlängert.