DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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"Ja, was hatten mit ihnen denn diese politischen Häftlinge mit den roten Dreiecken gemeinsam: die deutschen<br />
Sozialisten und Kommunisten, französischen, polnischen oder tschechischen Widerstandskämpfer? Sie waren<br />
Herren des Lagers und wollten es bleiben. Es war damals die Zeit, in welcher die .kriminellen' Häftlinge schlugen,<br />
im Handumdrehen erschlugen, in welcher sich die 'Politischen' verständigten, um ihren Widerstand zu<br />
organisieren, ihre Disziplin und ihre Fähigkeit zu zeigen, daß sie leiten können, und schließlich zum Gegenangriff<br />
übergingen, indem sie nach und nach die Schlüsselstellungen im inneren Lagerleben an sich zogen."<br />
Was sie gemeinsam hatten? Aber lieber Jean-Marc Theolleyre, waren sie in den Lagern einmal an der Macht, dann betrugen<br />
sie sich genau wie die Kriminellen, und Jäger hat es Ihnen doch mit den Worten gesagt, die Sie so ehrlich in Ihrem Bericht<br />
wiedergeben:<br />
"Ich habe keine Mißhandlungen begangen. Im Gegenteil, ich bin von den Politischen geschlagen worden. Sie haben<br />
sich als die Schlimmsten erwiesen, aber ihnen hat man nie etwas gesagt. Warum grollt man Leuten wie uns mit<br />
den grünen oder schwarzen Dreiecken derartig? Als ich nach Struthof kam, haben mich nicht die SS-Männer<br />
geprügelt, sondern die Politischen. Bisher hat man aber keinen einzigen von ihnen vor Gericht gesehen. Und<br />
dennoch hat der oberste Kapo von Struthof, der einer von ihnen war und Schlimmeres getan hat als ich, die<br />
Einstellung seines Verfahrens erreicht."<br />
In einer anderen Zeitung, immer wieder über Struthof, berichtet ein anderer Gerichtsberichterstatter:<br />
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"Mehrere andere Zeugen sind aufgetreten und haben den Tod eines jungen Polen beschworen, der nicht rasch<br />
genug zum Appellplatz, gekommen war, weil er geschlafen hatte. Von Hermanntraut wurde er mit Gewalt und<br />
unter Schlägen herbeigeführt und alsdann auf eine Art Tisch gelegt, der zur Verabfolgung der Prügelstrafe diente.<br />
Er erhielt 25 entsetzliche Schläge von zwei anderen Häftlingen, die man gezwungen hatte, sie ihm zu erteilen."<br />
In diesem Werke wird man die Geschichte von Stadjeck, eine seltsame Wiederholung von Dora, von Fiorelini, Bergen-<br />
Belsen und einiger anderer finden, die sich genau wie Jäger oder diese beiden Unglücklichen benahmen, die gezwungen<br />
wurden—oder sich anboten! — 25 entsetzliche Stockhiebe einem ihrer Unglücksgefährten zu verabreichen: ob Kriminelle<br />
oder Politische, denn die zweiten übernahmen nach den ersteren die Selbstverwaltung im Strafvollzug, es gab Tausende von<br />
Fiorelinis, Stadjecks, Jäger und Stockschlägern.<br />
Einige Kriminelle, die man zur Rechenschaft zog, sind bekannt.<br />
Von den Politischen verlangte man keine Rechenschaft, und darum kennt man auch keinen von ihnen. Wenn man alles<br />
wissen will: es war nicht möglich, von den Politischen Rechenschaft zu fordern. Sie hatten die Verwirrung der Dinge und<br />
die Unordnung der Zeit ausgenutzt und waren so geschickt gewesen, die Kriminellen in den Lagern zu verdrängen — durch<br />
Methoden, die sich aus den Gesetzen der Umgebung ergaben, zugleich aber auch darin bestanden, der SS Vertrauen<br />
einzuflößen, was nicht übersehen werden darf.<br />
Im gegebenen Augenblick waren sie auch geschickt genug gewesen, sich sowohl in Ankläger wie in Richter zu<br />
verwandeln, und so fügte es sich, daß ihnen allein die rechtliche Befugnis zuerkannt wurde, Rechenschaft zu fordern. In<br />
ihrer blinden Wut, überall Schuldige zu sehen, hätten sie alle Welt erschossen und bemerkten nicht einmal, daß sie an der<br />
Spitze der Konzentrationslager keine andere Rolle gespielt hatten — ja eine schlimmere! — als die, welche sie<br />
beispielsweise Petain vorwarfen, an der Spitze des besetzten Frankreichs gespielt und sich hierzu angeboten zu haben.<br />
So waren diese Zeiten, daß sich damals niemand darum kümmerte, was sie getan hatten.<br />
In der Folgezeit entdeckten dann manche Leute, daß sie ein wenig voreilig gehandelt hatten, als sie der Kommunistischen<br />
Partei die Rolle einer Regierungspartei zuerkannten, daß die meisten Staatsanwälte und Richter Kommunisten waren, und<br />
daß die anderen, die es zufällig nicht waren, aus Feigheit, Unwissenheit oder Berechnung trotzdem das Spiel<br />
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des Kommunismus mitmachten. Auf diesem Umweg über die politische Notwendigkeit entdeckte man schließlich einen<br />
Teil der Wahrheit über das Benehmen der politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern. Aber diese politische<br />
Notwendigkeit tritt immer nur in der Vorstellungswelt einer gewissen Klasse zutage: nämlich der führenden Klasse, die<br />
vom Kommunismus nur das feststellt, was sie, und nur sie, unmittelbar bedroht. Darum lernt man immer nur einen Teil<br />
der Wahrheit kennen:<br />
ganz wird man sie erst an dem Tag erkennen, an dem die anderen Klassen und besonders die Arbeiterklasse ihrerseits die<br />
nicht weniger dunklen Absichten des Kommunismus in bezug auf sie selbst erkennen werden.<br />
Aber das wird offenbar noch lange dauern.