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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Gedanke gekommen, die Konzentrationslager-Bürokratie hätte, wenn sie sich darauf beschränkt hätte, weniger zu<br />

essen und weniger zuschlagen, fast alle Häftlinge retten können, und daß es heute nur vorteilhaft sein könnte,<br />

wenn auch sie Zeugen wären.<br />

Wenn ein so gut unterrichteter Mann, der außerdem eine gewisse Kultur zur schau trägt, zu derart erbärmlichen Folgerungen<br />

kommen konnte, so muß die Ursache in der Tatsache gesehen werden, daß er die Einzelnen und die Welt der<br />

Konzentrationslager nach Maßstäben beurteilte, die außerhalb von ihr liegen. Wir begehen denselben Fehler, wenn wir<br />

alles, was sich in Rußland oder China zuträgt, nach den Regeln einschätzen, die der westlichen Welt eigen sind, und<br />

Russen wie Chinesen machen es ebenso. Hier wie dort wurde eine Ordnung ersonnen, deren Praxis einen Menschentyp<br />

hervorgebracht hat, dessen Vorstellungen vom sozialen Leben und vom Verhalten des Einzelnen voneinander abweichen,<br />

wenn nicht sich entgegengesetzt sind.<br />

Dasselbe ist bei den Konzentrationslagern der Fall, zehn Jahre Praxis haben ausgereicht, um eine Ordnung zu schaffen, nach<br />

welcher alles beurteilt werden muß, wobei besonders zu berücksichtigen ist, daß diese Ordnung einen neuen Menschentyp<br />

erzeugt hat, der als Mittelding zwischen dem Häftling nach dem Strafrecht und dem politischen Häftling steht. Die<br />

Charakteristik dieses neuen Menschentyps ergibt sich aus der Tatsache, daß der ersterbe den zweiten vom rechten Wege<br />

abgebracht hat und ihn, ohne sein Gewissen allzu sehr damit zu belasten, sich selbst<br />

auf dem Niveau angeglichen hat, dem das Lager von jenen angepaßt wurde, die es ersonnen hatten. Den Reaktionen aller<br />

Häftlinge — ob grün oder rot — hat das Lager einen Sinn aufgedrückt und nicht umgekehrt.<br />

In Übereinstimmung mit dieser Feststellung und insoweit man zugeben will, daß sie keine geistige Konstruktion ist,<br />

können die in der Welt außerhalb der Konzentrationslager geltenden Regeln der Moral wohl verzeihend eintreten, in keinem<br />

Falle aber rechtfertigen.<br />

Das Verhalten der SS.<br />

Ich stelle zwei Behauptungen einander gegenüber:<br />

"Häftlinge, die ihre Kameraden mißhandelten oder sogar zu Tode prügelten, wurden<br />

bezeichnenderweise von der SS nie bestraft und mußten daher von der Häftlingsjustiz zur strecke<br />

gebracht werden." (Seite 98.)<br />

und:<br />

"Eines Morgens wurde auf einem Block ein Häftling erhängt aufgefunden. Es wurde eine<br />

Untersuchung eingeleitet, die ergab, daß der «Erhängte» durch unmenschliche Prügel, Schläge und<br />

Tritte getötet und dann vom Stubendienst unter Leitung des Blockältesten Osterloh 13 ) aufgehängt<br />

worden war, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Der Ermordete hatte gegen das Verschieben von<br />

Brot und Essenportionen durch den Stubendienst protestiert. Die SS-Lagerführung erreichte 14 ), daß<br />

die Angelegenheit niedergeschlagen und der Mörder wieder in seine Position als Blockältester<br />

eingesetzt wurde, worauf alles beim alten blieb,' (Seite 50.)<br />

Es stimmt, daß die SS-Lagerführung im allgemeinen nicht in die<br />

zwischen den Häftlingen auftretenden Streitigkeiten eingriff, und daß irgendeine gerechte Entscheidung von ihr vergeblich zu<br />

erwarten war. Es konnte auch gar nicht anders sein:<br />

"Was hinter dem Stacheldraht wirklich vorging, blieb ihnen verborgen." (Seite 275.)<br />

Tatsächlich vervielfachte die Häftlingsführung ihre Anstrengungen, damit die SS-Führung nichts davon erfuhr. Während sie<br />

sich zur wahren "Häftlingsjustiz" aufwarf und sich zunutze machte, daß keine Berufung gegen ihre Entscheidungen — das<br />

Unwahrscheinliche angenommen — eingelegt werden konnte, suchte sie stets nur Zuflucht bei der SS, um ihre Autorität zu<br />

stärken, wenn sie sie schwinden fühlte. Sonst aber sah sie lieber, wenn die SS nicht eingriff, weil sie befürchtete, diese sei<br />

weniger streng, was ihr Ansehen und ihre Führungseignung bei der Masse in<br />

-213-<br />

-214-<br />

13) Ein Grüner. Und deshalb wird der Vorfall als "beispielhaft' berichtet.<br />

14) Von uns unterstrichen.

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