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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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überflutet wurden und das erste Verwaltungspersonal aus ihren Opfern bilden und den ersten Lagerältesten bestimmen<br />

mußten. Zwischen einem Thälmann oder einem Breitscheid, die ihrer Aufmerksamkeit besonders anempfohlen waren, und<br />

dem ersten besten Verbrecher, der seine Schwiegermutter ermordet oder seine Schwester geschändet hatte, aber unterwürfig<br />

und willig war, haben sie sich nicht lange besonnen, sie haben den zweiten gewählt. Dieser hat dann von sich aus die<br />

Kapos und Blockältesten bestimmt und sie gezwungenermaßen aus seiner Welt, das heißt aus den Kriminellen gewählt.<br />

Erst als die Lager eine gewisse Entwicklung durchgemacht hatten, sind sie zu wahren ethnographischen und individuellen<br />

Zentren geworden und brauchten Männer von einer gewissen sittlichen und geistigen Qualität, um der SS-Führung<br />

wirksame Hilfe leisten zu können. Letztere hatte<br />

inzwischen schon festgestellt, daß die Kriminellen der Abschaum der Bevölkerung im Lager wie anderwärts waren, und daß<br />

sie bei weitem nicht der Aufgabe gewachsen waren, die von ihnen verlangt wurde. Darauf hat die SS auf die Politischen<br />

zurückgegriffen. Eines Tages mußte man einen grünen Lagerältesten durch einen roten ersetzen, der sofort damit begann, auf<br />

allen Posten die Grünen zugunsten der Roten zu liquidieren. So entstand der Kampf zwischen den Grünen und den Roten,<br />

der rasch den Charakter eines Dauerzustandes annahm. Auf diese Weise wird es auch erklärlich, weshalb die alten Lager<br />

Buchenwald und Dachau sich in den Händen der Politischen befanden, als wir sie kennenlernten, während die jungen, noch<br />

im Stadium des Straflagers oder Arbeitslagers befindlichen, abgesehen von wunderlichen Zufällen, stets in Händen der<br />

Grünen waren.<br />

Man hat zu behaupten versucht, dieser Kampf zwischen den Grünen und den Roten, der übrigens erst sehr spät in das<br />

deutsche Kontingent unter den Insassen der Lager einbrach, sei das Ergebnis einer Koordination der Anstrengungen der<br />

zweiten gegen die ersteren gewesen: dies ist unrichtig. Die alleinstehenden Politischen, die sich gegenseitig nicht trauten,<br />

hatten unter sich nur ein sehr unbestimmtes und sehr schwaches Zusammengehörigkeitsgefühl. Auf der Seite der Grünen<br />

dagegen war dies ganz anders: sie bildeten einen zusammenhängenden Block, der innerlich stark gefestigt wurde durch das<br />

instinktive Vertrauen, das stets zwischen Menschen gleichen Milieus, den Stammgästen der Gefängnisse oder den<br />

Galgenvögeln besteht. Ein Sieg der Roten war nur dem Zufall, der Unfähigkeit der Grünen oder der Einwirkung der SS zu<br />

verdanken.<br />

Man hat auch behauptet, die Politischen — und vor allem die deutschen Politischen — hätten revolutionäre Ausschüsse<br />

gebildet, die in den Lagern Versammlungen abgehalten, Waffen in ihnen gelagert und sogar heimlich mit der Außenwelt<br />

oder von einem zum anderen Lager in Briefs Wechsel gestanden hätten: dies ist eine Legende. Es mag sein, daß durch<br />

glückliche Mithilfe von Umständen es durch Zufall einmal einem einzelnen möglich war, mit der Außenwelt oder einem<br />

Unglückskameraden in einem anderen Lager hinter dem Rücken der SS-Führung zu korrespondieren: nämlich durch einen<br />

Freigelassenen, der mit viel Vorsicht Nachrichten eines Häftlings an seine Familie oder einen politischen Freund bei sich<br />

trägt, oder einem Neuankömmling, der das umgekehrte Verfahren einschlägt, ein Transport, der Nachrichten von einem<br />

Lager in das andere befördert. Aber es war außerordentlich selten, wenigstens während des Krieges, daß ein Häftling<br />

freigelassen wurde, und was die Transporte betrifft, so wußte niemand im Lager, selbst die einfachen SS-Männer nicht,<br />

wohin sie gingen, bevor sie übergeben wurden. Man erfuhr im allgemeinen erst einige Wochen oder einige Monate später,<br />

daß<br />

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ein erfolgter Transport nach Dora oder Ellrich gekommen war, und zwar durch Kranke, die ausnahmsweise zum Lager<br />

zurückgekommen waren, durch Tote, die man dem Lager zur Einäscherung zurückgeschickt hatte und auf deren Brust man<br />

Nummer und Herkunft lesen konnte. Aber behaupten zu wollen, diese Verbindungen seien mit Vorbedacht organisiert und<br />

betrieben worden, gehört in das Gebiet höchster Phantasie. Übergehen wir die Lagerung von Waffen: in den letzten Tagen<br />

von Buchenwald konnten dank der Unordnung Häftlinge einzelne nicht zusammengehörende Waffenteile und sogar<br />

vollständige Waffen aus der laufenden Fabrikation entwenden; aber von da bis zur Behauptung, es hätte sich um eine<br />

systematische Praxis gehandelt, liegt eine Welt, die die Vernunft von der Lächerlichkeit trennt. Übergehen wir ebenfalls die<br />

Revolutionsausschüsse und die von ihnen abgehaltenen Versammlungen: bei der Befreiung habe ich laut gelacht, als ich<br />

von dem Ausschuß für französische Interessen im Lager Buchenwald sprechen hörte. Drei oder vier großmäulige<br />

Kommunisten: Marcel Paul 5 ) und der bekannte Oberst Manhes an der Spitze, denen es gelungen war, dem<br />

Räumungstransport zu entgehen, ließen nach dem Weggang der SS und vor Ankunft der Amerikaner diesen Ausschuß aus<br />

dem Nichts entstehen. Es ist ihnen auch gelungen, die anderen in den Glauben zu wiegen, es handele sich um einen schon<br />

lange bestehenden Ausschuß 6 ), aber dies ist ein reiner Witz, und die Amerikaner haben es auch nicht ernst genommen. Ihre<br />

erste Arbeit beim Betreten des Lagers war, diese Unruhestifter zu bitten, sich ruhig zu verhalten, und die Masse, die sich<br />

anschickte, sie anzuhören, sich folgsam in die Blocks zurückzubegeben, und alle, sich von vornherein einer Disziplin zu<br />

fügen, deren Herren sie allein zu bilden wünschten. Danach haben sie sich mit den Kranken, der Lebensmittelverteilung und<br />

der Organisation der Rückführung in die Heimatländer beschäftigt, ohne auch nur Kenntnis von den Ratschlägen und

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