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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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doch steinharten Pharisäertum, das zu den gleichzeitig verkündeten sozialen und politischen<br />

Idealen wie die Faust aufs Auge paßte." (Seite 287.)<br />

So war es in allen Lagern. Bis auf die Nachsicht und gewisse zu verschweigende Dinge könnte man alle Gründe für die<br />

Greuel nicht besser und nicht schlechter in Worte fassen als mit dem einen: Selbsterhaltungstrieb. Und alle seine Mittel<br />

mit: Korruption.<br />

Wenn man hier den Kommentar zum Bilde unterbrechen darf, kann man auch einschalten, daß der Selbsterhaltungstrieb, ein<br />

sehr altes Thema, etwas ganz anderes ist als das, was eine kindliche Moral lehrt. Von dem wilden Guitton, der in dem von<br />

Richelieu belagerten La Rochelle sich Aderlässe machen ließ, um von seinem gekochten Blut seinen Sohn zu ernähren, bis<br />

zu Saturnus, der seine Kinder bei der Geburt auffraß, um dem Tod zu entgehen, mit dem ihn der Sonnengott bedrohte, ist<br />

Raum für die verschiedensten menschlichen Reaktionen. In einer Gesellschaft, die allen Einzelnen von Anfang an das Leben<br />

sicherstellt, darf man wohl glauben, daß in ihr Guitton stärker vertreten ist als Saturn: das Verhalten des Einzelnen läßt<br />

höchstens in Ausnahmefällen noch die Behauptung vom Gegenteil zu. Aber dieses Verhalten ist nur ein Firnis, der nichts<br />

entstellt, es genügt, ihn ein wenig anzukratzen: dann ändern sich die sozialen Bedingungen jäh, und die menschliche Natur<br />

kommt in dem ganzen Wert zum Vorschein, den sie dem Leben beimißt.<br />

Ein gesundes Volksempfinden kommt in der stimme aller Kinder Frankreichs zum Ausdruck, wenn sie das Lied singen:<br />

"Es war ein kleines Schiff". Die schreckensvolle Hungerlage, in der es sich befindet, führt zu dem Schluß, daß man "den<br />

kurzen Strohhalm ziehen" läßt, um zu erfahren, wer nun gegessen wird, und nicht die Entscheidung einer Verschwörung<br />

überläßt oder auf demokratischem Wege in der Generalversammlung herbeiführt. Aber dieses gesunde Volksempfinden war<br />

entrüstet, als es erfuhr, daß aus der Erfahrung des kleinen Schiffes das Flugzeug des Generals Nobile geworden war, das<br />

abstürzte und letzterem den Vorwurf eintrug, bis zur Ankunft der Rettungsexpedition, die das Wrack wiederherstellte, nur<br />

deshalb noch gelebt zu haben, weil er einen oder mehrere seiner Kameraden aufgezehrt hatte. Wenn es auf die Erzählungen<br />

aus den Konzentrationslagern nicht heftig reagierte, so lag das daran, weil aus diesen nicht klar hervorging, daß die<br />

Konzentrationslager-Bürokratie die Masse der Häftlinge insofern aufgezehrt hatte, als sie alle Mittel der Korruption<br />

ausnutzte, alle kurzen Strohhalme für sich behielt und von der SS sich aussuchen ließ.<br />

Vor dem letzten Weltkrieg habe ich viele Leute kennengelernt, die "lieber stehend sterben als auf den Knien leben" wollten.<br />

Sie meinten es bestimmt ehrlich, in den Lagern aber haben sie auf dem Bauche kriechend gelebt, und bestimmte Leute<br />

unter ihnen haben die schlimmsten Freveltaten begangen. Dem Zivilleben oder kurz dem Leben überhaupt wiedergegeben,<br />

bleiben sie, in Unkenntnis der Niederlage, die sie erlitten, und<br />

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des Beispiels, das sie selbst gegeben haben, genauso starrsinnig wie früher, halten immer noch dieselben Reden und ... sind<br />

bereit, mit den Bolschewiken dasselbe wieder zu beginnen, was sie mit den Nazis getan haben.<br />

In Wirklichkeit fühlt man sehr gut, daß es außer dem Selbsterhaltungstrieb, der bei allen Schichten mitgespielt hat, sowohl<br />

bei dem einfachen Häftling vor der Bürokratie, als auch bei dem Bürokraten vor der SS und selbst bei der SS vor ihren<br />

Vorgesetzten, keine annehmbare Erklärung für die Ereignisse in der Welt der Konzentrationslager gibt. Man fühlt es sehr<br />

gut, aber man will es nicht zugeben. Dann greift man auf die Psychoanalyse zurück: schon die Ärzte Molieres sprachen in<br />

Latein mit ihren Kranken, das sie nicht besser kannten als ihren Beruf, und hatten damals schon die ergebene Zustimmung<br />

der öffentlichen Meinung.<br />

Beurteilungen<br />

"Die Vorkommnisse in den Konzentrationslagern sind voll von psychologischen<br />

Merkwürdigkeiten, sowohl auf selten der SS wie auf seiten der Häftlinge. Im allgemeinen<br />

erscheinen wohl die Reaktionen der Gefangenen verständlicher als die der Unterdrücker, da jene<br />

sozusagen im Bereich des Menschlichen blieben, während diese den Charakter des<br />

Unmenschlichen trugen." (Seite 305.)<br />

Meines Erachtens wäre es richtiger, zu sagen, die Reaktionen beider lagen alle auf dem Gebiet des Menschlichen im<br />

biologischen Sinne des Wortes. Und was die Häftlingsführung und die SS im besonderen betrifft, so waren sie im<br />

moralischen Sinne alle durch das Unmenschliche gekennzeichnet.

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