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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Die Erfahrung der einstigen Frontkämpfer, die noch zu wohlerhalten ist, um verflogen zu sein, bietet jedoch die Möglichkeit<br />

zu einer Gegenüberstellung, die ich für beweiskräftig halte.<br />

Sie waren damals mit einem festen Willen zum Frieden zurückgekommen und schworen bei allen Heiligen, alles<br />

daranzusetzen, daß dieser Krieg der allerletzte gewesen sei. Dafür wußte man ihnen Dank und erzeigte ihnen eine<br />

Dankbarkeit, der es nicht an Bewunderung fehlte. In der Freude und der Hoffnung, der Begeisterung, bereitete ihnen eine<br />

ganze Nation einen herzlichen und vertrauensvollen Empfang.<br />

Am Vorabend des zweiten Weltkrieges waren sie jedoch stark umstritten. Ihre Berichte waren reichlich nach den<br />

verschiedensten Richtungen kommentiert worden, und das Mindeste, was man dazu sagen kann, ist, daß die Meinung<br />

ihnen nicht gewogen war, so wenig sie dies auch einsahen oder sich etwas daraus machten. Oft war sie auch ungerecht. Sie<br />

machte zwar einen Unterschied zwischen ihren Reden und ihren Beschreibungen, sprach aber endgültige Urteile über beide<br />

aus, die sich in ihrer Zwanglosigkeit wieder vereinigten. Sie grinste bei den ersteren, ob es sich nun um einen<br />

unvermeidlichen Faselhans — dieses Wort wurde gebraucht — handelte, der seine Erinnerungen in alle Unterhaltungen<br />

einflocht, oder um die Führer der regionalen oder nationalen Vereinigungen, deren Aufgabe auf die sonntäglichen<br />

Forderungen beschränkt zu sein schien. Bei den zweiten verhielt sie sich ebenso entschieden und erkannte nur ein Buch<br />

über den Krieg an: "Le Feu" — "Das Feuer" — von Barbusse. Wenn sie in ihren seltenen Augenblicken des Wohlwollens<br />

eine Ausnahme machte, so tat sie es bei den Schriften von Galtier-Boissiere und Dorgeles, aber in einer anderen Hinsicht:<br />

bei dem einen wegen seines spöttelnden und hartnäckigen Pazifismus für das, was sie bei dem anderen für Realismus hielt.<br />

Wer vermag die wahren Gründe für diese Umkehr zu sagen? Nach meiner Ansicht liegen sie alle im Rahmen folgender<br />

allgemeinen Wahrheit: die Menschen sind weitaus mehr mit der Zukunft beschäftigt, die sie anlockt, als mit der<br />

Vergangenheit, von der sie nichts mehr zu erwarten haben; es ist daher unmöglich, das Leben der Völker bei einem so<br />

ungewöhnlichen Ereignis für dauernd anzuhalten, wie es beispielsweise ein Krieg ist, eine Erscheinung, die sich zu<br />

verallgemeinern sucht und die auf jeden Fall ganz rasch in den ihr eigenen Merkmalen aus der Mode kommt.<br />

Vor dem ersten Weltkrieg erzählte mein Großvater, der den Krieg von 1870 noch nicht verdaut hatte, ihn jeden Sonntag<br />

meinem Vater, der vor Langeweile gähnte. Vor 1939 war mein Vater mit den Erzählungen von dem seinigen noch nicht<br />

fertig geworden, und um nicht im Rückstand zu bleiben, konnte ich jedesmal, wenn er ihn behandelte, nicht den Gedanken<br />

unterlassen, daß Du Guesdin 2 ), wenn er jetzt mit dem Stolz auf seine mit der Armbrust verrichteten Heldentaten auftreten<br />

würde, nicht lächerlicher wirken könnte.<br />

So stehen sich die Generationen in ihren Auffassungen gegenüber. Auch in ihren Interessen. Dies veranlaßt mich, als<br />

Einzelfall zu erwähnen, daß in der Zeit zwischen den beiden Kriegen alle zu einer Beförderung<br />

-138-<br />

-139-<br />

2) Du Guesdin, Bertrand, berühmter französischer Feldherr, 1520-1380 (d. Obers.).<br />

Heranstehenden das Gefühl hatten, nicht den geringsten Anlauf zur Verwirklichung ihrer Absicht unternehmen zu können,<br />

ohne auf den ehemaligen Frontkämpfer und dessen besondere Rechte zu stoßen. Man hatte ihm "Vorzugsrechte" zuerkannt.<br />

Er benutzte sie, um unaufhörlich neue zu fordern. Nun ist es aber doch so, daß die Tatsache, einen langen Krieg mitgemacht<br />

und gewonnen zu haben, noch nicht das Recht verleiht, einen Frieden zu gestalten oder das bescheidenere, daß das<br />

Verdienst vorgeht, wenn es sich um einen Tabakladen, eine Beschäftigung als Feldhüter oder eine Aufnahmeprüfung für<br />

Studienräte handelt.<br />

Die Zwietracht fand ihren Höhepunkt in den dreißiger Jahren bei der Wirtschaftskrise ohne Hoffnung auf eine Wendung. Um<br />

1955 wurde sie noch größer, weil die einen infolge der außerordentlichen Leichtfertigkeit, mit der sie die Möglichkeit eines<br />

neuen Krieges hinnahmen, ihre Eide von der Rückkehr vergaßen, sowie durch den Friedenswillen der anderen. Es ist noch<br />

immer ein Gesetz der historischen Entwicklung, daß die jungen Generationen friedliebend sind, daß im Laufe der<br />

Jahrhunderte die Menschheit auf der Suche nach dem allgemeinen Frieden in ihr ihre Stärke findet, und daß der Krieg in<br />

gewissem Maße durch die Herrschaft der älteren ausgelöst wird.<br />

Obschon dies mit der gehörigen Zurückhaltung vorgebracht wird, scheint es jedoch, daß die ehemaligen Frontkämpfer einen<br />

optischen Irrtum begangen haben, der durch einen psychologischen Fehler verdoppelt wurde. Auf jeden Fall blieben die<br />

Probleme Krieg und Frieden, die nach fünfundzwanzig Jahren einer hartnäckigen und ununterbrochenen Agitation kaum<br />

gestreift worden waren, völlig offen. Eine Gerechtigkeit muß man ihnen jedoch widerfahren lassen: sie haben ihren Krieg so<br />

erzählt, wie er war. Kein Wort, von dem man las oder erzählen hörte, war so, daß man nicht zutiefst gefühlt hätte, es sei<br />

wahr oder zumindest wahrscheinlich. Soviel läßt sich aber von den Verschickten nicht sagen.<br />

Die Verschickten kamen mit Haß und Groll auf der Zunge und in der Feder zurück. Sie begingen bestimmt denselben<br />

Irrtum in der Optik und denselben psychologischen Fehler wie die ehemaligen Soldaten. Darüber hinaus waren sie aber

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