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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Wir wissen nicht, was Dora ist, keiner von denen, die bisher hingeschickt worden sind, ist zurückgekommen. Man sagt, es<br />

sei eine unterirdische Fabrik im Zustand ewigen Aufbaus, in welcher Geheimwaffen hergestellt würden. Man lebt, ißt und<br />

schläft in ihr und arbeitet auch dort, ohne je ans Tageslicht zu kommen. Täglich bringen vollbeladene Lastwagen Leichen<br />

zum Verbrennen nach Buchenwald, und aus diesen Leichen schließt man auf die Schrecken des Lagers. Glücklicherweise<br />

kommen wir nicht dort hinunter.<br />

Sechzehn Uhr: wir befinden uns noch immer vor dem Block in der Haltung "Stillgestanden!" unter den Augen der SS. Der<br />

Blockälteste geht durch die Reihen und läßt einen Greis oder einen Beschädigten sowie die Juden heraustreten. Cremieux,<br />

der allein diese dreifache Bedingung erfüllt, ist unter ihnen. Auch der kleine Hinkefuß und einige andere Gesichter, die<br />

weder Greisen noch Beschädigten noch Juden angehören,<br />

von denen wir alle aber wissen, daß ihre Eigentümer sich als Kommunisten ausgegeben haben oder wirklich welche sind<br />

und das Wohlwollen des Blockältesten genießen.<br />

Sechzehn Uhr dreißig: Richtung Krankenbaracke zur Gesundheitsbesichtigung — Gesundheitsbesichtigung, auch eine Art<br />

etwas so zu nennen. Ein SS-Arzt raucht eine ungeheure Zigarre und hat es sich in einem Sessel bequem gemacht; wir gehen<br />

in Reihe hintereinander an ihm vorbei und er schaut uns überhaupt nicht an.<br />

Siebzehn Uhr dreißig: Richtung Effektenkammer: man kleidet uns neu ein, gestreifte Hosen, Jacke und Mantel,<br />

zweckentsprechend bestimmtes Schuhwerk (aus Leder mit Holzsohlen), als Ersatz für die zur Arbeit ungeeigneten<br />

Holzsohlen.<br />

Achtzehn Uhr dreißig: Appell, der bis einundzwanzig Uhr dauert. Vor dem Schlafengehen müssen wir noch unsere<br />

Nummern auf die soeben empfangenen Bekleidungsstücke nähen, bei der Jacke und dem Mantel in Höhe der linken Brust,<br />

an der Hose unter der rechten Tasche.<br />

11. März, vier Uhr dreißig: Wecken.<br />

Fünf Uhr dreißig: Appell bis gegen zehn Uhr. 0, diese Appelle! Im März, in der Kälte, ob es regnet oder windig ist.<br />

Stunden um Stunden stehen zu bleiben, gezählt und wieder gezählt zu werden! Diesmal ist es ein Generalappell für alle, die<br />

zum Transport bestimmt sind, zu welchem Block sie auch gehören; er findet auf dem Appellplatz vor dem Turm statt.<br />

Um elf Uhr die Suppe.<br />

Um vierzehn Uhr neuer Appell, der bis achtzehn oder neunzehn Uhr dauert: wir haben den Begriff für die Dauer verloren.<br />

12. März: Wecken wie üblich, Appell fünf Uhr dreißig bis zehn Uhr. Appell und immer Appell. Sie wollen uns verrückt<br />

machen. Um fünfzehn Uhr verlassen wir endgültig den Block 48, und nach einem Aufenthalt von einigen Stunden auf dem<br />

Platz werden wir zum Kino-Block geleitet, in dem wir die Nacht verbringen, die Begünstigteren sitzend, der größte Teil<br />

stehend.<br />

Am anderen Morgen Wecken um drei Uhr dreißig, eine Stunde früher als gewöhnlich. Man führt uns unter den Turm, wo<br />

wir stehend auf die Verladung warten, in der Nacht, in der Kälte, seit dem Vortage elf Uhr nichts mehr im Leibe. Zwischen<br />

sieben und acht Uhr klettern wir in die Waggons.<br />

Reise ohne Geschichte: wir haben es uns bequem gemacht und schwatzen. Thema: wohin kommen wir? Der Zug schlägt<br />

die Richtung nach Westen ein, dort liegt Köln, tatsächlich, wir haben gewonnen! Gegen sechzehn Uhr hält er auf freiem<br />

Feld an einer Art Verladebahnhof an, wo abgezehrte, schmutzige Unglückliche in gestreiften Lumpen in derselben Art wie<br />

unsere neue Bekleidung, im Schnee, im Dreck watend, Waggons<br />

entladen, Kanalisation graben und die ausgeworfene Erde abfahren. Leute mit Armband und Nummern, gut gekleidet, voller<br />

Gesundheit, muntern sie mit Drohungen, Beschimpfungen und dem Gummiknüppel auf. Verbot, sie anzusprechen. Als wir<br />

an ihnen vorbeikommen, sind sie zufällig außerhalb der Hörweite der Überwachung, wir wagen sie so leise wie nur möglich<br />

zu fragen:<br />

"Sagt, wo sind wir hier?"<br />

"In Dora, mein Lieber, du hast nicht aufgehört, drauf zu sch . . .!" Fernand und ich, die wir uns an der Hand gehalten<br />

hatten, sehen uns an. Wir hatten nur schwer an das optimistische Gerede von Köln geglaubt. Eine große Entmutigung<br />

überfällt uns, die Arme fallen uns von den Schultern, wir fühlen, wie der Schrecken des Todes über uns hinwegstreicht.<br />

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