DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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4) Sofort nach meiner Befreiung im Mal 1945, als ich noch in Deutschland und auf dem Heimwege war, habe ich am Radio eine Plauderei<br />
eines Verschickten — Gandrey Retty, wenn ich nicht irre — gehört, der ihr diese Auslegung gab. So kommen die dummen und verlogenen<br />
Reden auf.<br />
das er nicht als nahe bevorstehend ansieht, schließlich aber kommen fühlt. Er lebt bei den Tschauschs des Blocks 48, die<br />
ihn als einen der Ihren ansehen, aber er gibt uns sofort Sicherheiten, die dazu führen, daß wir ihn als einen der Unseren<br />
betrachten: seine Rationen, die er verteilt, Bücher, die er sich verschafft und uns leiht.<br />
Jircszah kommt zum ersten Male mit Franzosen in Fühlung. Er betrachtet sie mit Neugier. Auch mit Mitleid: sind das die<br />
Franzosen? Ist dies die französische Kultur, von der man ihm in seiner Studentenzeit soviel erzählt hat? Er ist enttäuscht, er<br />
kommt nicht wieder darauf zurück.<br />
Meine Skepsis und die Art, mit der ich mich fast systematisch von dem lauten Leben des Blocks fernhalte, bringen ihn mir<br />
näher. "Ist das die Widerstandsbewegung?"<br />
Ich antwortete nicht. Um ihn aber mit Frankreich auszusöhnen, stelle ich ihm Cremieux vor.<br />
Er billigt bestimmt nicht das Verhalten der Tschauschs, aber er nimmt keinen Anstoß mehr daran und verachtet sie auch<br />
nicht:<br />
"Ich habe Schlimmeres gesehen", sagt er ... "Man soll von den Menschen nicht allzuviel Vorstellungskraft auf dem Wege<br />
des Guten verlangen. Wenn ein Sklave am Nehmen ist, ohne aus seiner Stellung zu fliegen, ist er ein größerer Tyrann als<br />
seine eigenen Tyrannen." Er erzählt mir die Geschichte von Buchenwald und den Lagern. "Es ist viel Wahres an allem, was<br />
man von den Schrecken erzählt, deren Schauplatz sie sind, aber es wird auch viel übertrieben. Man muß mit dem Komplex<br />
der Lüge des Odysseus rechnen, den alle Menschen haben und infolgedessen auch die Internierten. Die Menschheit braucht<br />
das Wunderbare, im Bösen wie im Guten, im Häßlichen wie im Schönen. Jeder hofft und wünscht, aus dem Abenteuer mit<br />
der Gloriole des Heiligen, des Helden oder des Märtyrers hervorzugehen, und jeder schmückt seine eigene Odyssee noch<br />
aus, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, daß die Wirklichkeit schon weitgehend für sich selbst genügt."<br />
Er hat keinen Haß gegen die Deutschen. Für ihn sind die Konzentrationslager nicht spezifisch deutsch und lassen keine<br />
Instinkte hervortreten, die dem Deutschen Volke eigen sein könnten.<br />
"Die Lager sind eine historische und soziale Erscheinung, die alle Völker durchmachen, wenn sie zu dem Begriff Nation<br />
und Staat kommen. Lager hat es im Altertum, im Mittelalter und in der Neuzeit gegeben;<br />
warum möchten Sie, daß unser Zeitalter eine Ausnahme mache? Schon lange vor Jesus Christus fanden die Ägypter nur<br />
dieses Mittel, um für ihr Gedeihen die Juden unschädlich zu machen, und Babylon erlebte seinen wunderbaren Aufstieg nur<br />
dank den Zusammenlegungen in<br />
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Lagern. Auch die Engländer griffen mit den unglücklichen Buren auf sie zurück, nach Napoleon, der Lambessa erfand 5 ).<br />
Heute gibt es Lager in Rußland, die denjenigen der Deutschen in nichts nachstehen, es gibt Lager in Spanien, in Italien und<br />
auch in Frankreich: Sie werden hier Spanier treffen und werden sehen, daß sie Ihnen beispielsweise vom Lager Gurs in<br />
Frankreich erzählen, wo man sie nach dem Siege Francos einpferchte."<br />
Ich wage eine Bemerkung:<br />
"Trotzdem hat man in Frankreich die spanischen Republikaner aus Menschlichkeit zusammengefaßt und mir ist nicht<br />
bekannt, daß sie schlecht behandelt wurden."<br />
"In Deutschland geschieht dies auch aus Menschlichkeit. Wenn die Deutschen von dieser Einrichtung sprechen, gebrauchen<br />
sie das Wort «Schutzhaftlager», das soll heißen, ein Lager für zu schützende Häftlinge. Im Augenblick seiner<br />
Machtübernahme hat der Nationalsozialismus in einer Geste der Milde seine Gegner außerstande setzen wollen, ihm zu<br />
schaden, sie aber auch gegen den Zorn der Öffentlichkeit schützen wollen, um mit den Morden an den Straßenecken Schluß<br />
zu machen, um die irregeleiteten Schafe sittlich zu erneuern und sie zu der gesünderen Vorstellung von der deutschen<br />
Volksgemeinschaft, ihrer Bestimmung und der Aufgabe jedes Einzelnen in ihr zurückzuführen. Aber der National-<br />
Sozialismus ist von den Ereignissen überholt worden, vor allem von seinen Beamten. Es ist beinahe so wie die Geschichte<br />
von der Mondfinsternis, die man in den Kasernen erzählt. Der Oberst sagt eines Tages zum Major, daß eine Mondfinsternis<br />
stattfinden wird, und daß die Vorgesetzten diese Erscheinung von allen Soldaten beobachten lassen und sie ihnen erklären<br />
sollen. Der Major gibt es an den Hauptmann weiter und dann gelangt die Mitteilung durch den Gefreiten in folgender Form<br />
an die Soldaten: «Auf Befehl des Herrn Obersten findet heute abend um 23 Uhr eine Mondfinsternis statt; alle, die nicht an<br />
ihr teilnehmen, werden vier Tage Arrest erhalten.» So ist es auch mit den Konzentrationslagern;