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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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die aus allen Nationen Europas gekommen sind. Auch sie sind zu Kommandos zusammengefaßt und leben in einem 2 km<br />

von Dora entfernten Lager, sie arbeiten zehn Stunden am Tag, sie erhalten hohe Löhne und eine wenig abwechslungsreiche,<br />

aber gesunde und reichliche Kost.<br />

Schließlich sind sie in einem Umkreis von 30 km frei: darüber hinaus benötigen sie eine Sondergenehmigung. Unter ihnen<br />

befinden sich viele Franzosen, die sich aber von uns entfernt halten, und in deren Augen ständig die Furcht zu lesen ist, sie<br />

könnten eines Tages unser Los teilen.<br />

* * *<br />

31. März 1944. Seit etwa acht Tagen sind die Kapos, der Lagerschutz und die Blockältesten besonders nervös. Mehrere<br />

Häftlinge sind an den Schlägen gestorben: man hat nicht nur im Tunnel, sondern auch bei den Außenkommandos Läuse<br />

gefunden und die SS-Führung hat die Häftlingsführung für diesen Zustand verantwortlich gemacht. Zum Überfluß ist den<br />

ganzen Tag ein entsetzliches Wetter gewesen: die Kälte ist viel strenger wie gewöhnlich, und ein mit Graupeln<br />

untermischter Eisregen ist unaufhörlich gefallen. Am Abend kommen wir derart erfroren, durchnäßt und ausgehungert zum<br />

Appellplatz, daß man sagen mußte: wenn nur dieser Appell nicht zu lange dauert! Unglück: um 10 Uhr abends stehen wir<br />

noch immer in den Graupelschauern und warten, bis uns das "Abtreten" befreien wird. Endlich ist es soweit, es ist zu Ende,<br />

wir werden jetzt in Eile die Suppe essen und uns dann auf das Stroh fallen lassen können. Wir kommen zum Block:<br />

Reinigen der Schuhe, dann bleiben wir auf ein Zeichen des Blockältesten draußen, der, im Türrahmen stehend, uns eine<br />

Rede hält. Er verkündet uns, daß Läuse gefunden wurden, daß das ganze Lager nun desinfiziert werden soll ... Es beginnt<br />

diesen Abend: fünf Blocks, unter denen auch 35 bezeichnet ist, sollen heute Abend durch die Entlausung gehen.<br />

Infolgedessen werden wir die Suppe erst nach der Durchführung essen. Er erklärt uns die Formalitäten, denen wir unterzogen<br />

werden und geht zur Ausführung über.<br />

"Alles da drin!" Wir betreten den Eßraum mit unseren Schuhen in der Hand.<br />

"Ausziehen!" Wir entkleiden uns, legen unsere Kleidungsstücke zu einem Paket zusammen, so daß die Nummer sichtbar<br />

ist.<br />

"Zu fünf!" Wir sind entsetzt.<br />

"Zu fünf!" Wir führen es aus. Die Stubendienste tragen unsere Kleider in Decken, umgeben uns, und ganz nackt schlagen<br />

wir in der Kälte, unter Regen und Schnee die Richtung nach dem Gebäude ein, in welchem wir desinfiziert werden sollen.<br />

Ungefähr achthundert Meter haben wir zurückzulegen.<br />

Wir kommen an. Die vier anderen Blocks, nackt wie wir, drängen sich bereits vor dem Eingang zusammen: wir fühlen, wie<br />

der Tod unter uns tritt. Wie lange wird dies dauern? Zu etwa einem Tausend stehen wir da, alle nackt in der nassen<br />

Nachtkälte, die bis auf die Knochen durchgeht, schlotternd an die Türen gedrängt. Keine Möglichkeit, hineinzukommen.<br />

Entsetzliche Szenen spielen sich ab. Zuerst versucht man, den Eintritt zu erzwingen: die Leute von der Entlausung halten<br />

uns mit einem Wasserstrahl zurück. Dann will man zum Block zurück, um dort zu warten, bis man an der Reihe ist:<br />

unmöglich, der Lagerschutz, mit Gummiknüppeln in den Händen, hat uns umzingelt. Man muß bleiben, zwischen<br />

Wasserstrahl und Gummiknüppeln eingekeilt, naßgespritzt und geschlagen. Wir drücken uns eng aneinander. Alle zehn<br />

Minuten werden vierzig Mann in einem schrecklichen Durcheinander, einem wahrhaften Kampf mit dem Tode, eingelassen.<br />

Man gebraucht die Ellbogen, man schlägt sich, die Schwächsten werden unbarmherzig zu Boden getreten, beim<br />

Tagesgrauen findet man ihre Leichen. Gegen zwei Uhr morgens gelingt es mir, ins Innere zu kommen. Fernand hinter mir<br />

auf dem Wege, den ich erkämpft habe: Friseur, Kresol, Dusche. Am Ausgang gibt man uns ein Hemd und eine Unterhose,<br />

in denen wir in der Nacht den Weg zum Block zurücklegen. Ich habe den Eindruck, eine wahrhaft heroische Tat vollbracht<br />

zu haben. Wir kommen zum Block in den Eßraum, in welchem ein Stubendienst uns unsere Kleider gibt, die vor uns von<br />

der Desinfizierung gekommen sind. Die Suppe steht am Bett.<br />

Beim Wecken ist die unheilvolle Komödie gerade zu Ende. Mindestens die Hälfte des Blocks ist gerade noch zurecht<br />

gekommen, um die Suppe zu essen, die Tagesration in Empfang zu nehmen und zum Appellplatz zu springen, um an die<br />

Arbeit zu gehen. Es fehlen einige: diejenigen, die während des Verlaufs dieses üblen Streiches gestorben sind. Andere haben<br />

ihn um einige Stunden oder zwei bis drei Tage überlebt und sind von der fast unvermeidlich folgenden Lungenentzündung<br />

dahingerafft worden: das Unternehmen hat wahrscheinlich ebenso viele Menschen wie Läuse getötet.<br />

Und was ist vorgegangen?<br />

Die SS-Führung hatte lediglich die Desinfektion für täglich fünf Blocks angeordnet und die Häftlingsführung in der<br />

Durchführung völlig selbständig schalten und walten lassen. Sie hätte sich die Mühe machen können, einen Stundenplan für<br />

jeden Block der Reihe nach aufzustellen:<br />

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