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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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faucht und spuckt, dreht auf der Stelle durch und knallt. Hundertmal ist sie stehengeblieben, hundertmal sah es so aus, als<br />

wolle sie die Anstrengung, die man von ihr erwartet, nicht mehr leisten.<br />

Es regnet, regnet ohne Unterlaß.<br />

Im offenen Waggon liegen achtzig zu Boden gesunkene, zusammengeschrumpfte Körper ineinander verwickelt und<br />

aufeinandergehäuft. Lebende? Tote? Niemand vermag es zu sagen. Am Morgen sind sie noch erwacht, frierend in ihren<br />

armseligen, durchweichten Lumpen, abgemagert, durchsichtig, blaß, ihre aus den Höhlen gequollenen Augen voller Fieber<br />

und Stumpfsinn. In einem übermenschlichen Bemühen kommen sie sich wie durchgespült vor. Sie haben den Tag noch<br />

unterscheiden können, sie haben den Regen — die langen, spitzen Regentropfen — gespürt, wie sie durch die Lumpen und<br />

das dünne und abgehärtete Fleisch und dann in den Rücken in ihren unbarmherzig zusammengedrückten Reihen eindrangen.<br />

In einem nicht wahrnehmbaren Erschauern haben sie krumme Buckel gemacht. Vielleicht ließen sie sich zu tausend<br />

instinktiven Bewegungen des Erwachens hinreißen, als sie einander bei Licht besahen. Durch den Nebel des Fiebers und<br />

den vom Himmel fallenden Bindfadenregen haben sie bis zu den Zähnen bewaffnete Männer in Uniform, unempfindlich, aber<br />

wachsam, an den vier Ecken des Waggons gesehen. Dann ist ihnen die Erinnerung wieder gekommen: sie haben sich ihr<br />

Los vor Augen gehalten und sind mit einem plötzlichen Auffahren trübsinnig und niedergeschlagen in diesen Halbschlaf,<br />

dieses Mittelding zwischen Leben und Tod zurückgefallen.<br />

Es regnet, es regnet immer noch. Eine schwere, von Gestank verpestete Luft steigt aus dem Haufen von Leibern empor und<br />

verflüchtigt sich in der feuchten Kälte und in der Nacht.<br />

Bei der Abfahrt waren sie hundert Mann.<br />

In Eile zusammengetrieben, Hunde auf den Fersen, bunt durcheinandergemischt, unter Schlägen und gebrüllten Befehlen<br />

scharenweise in die Waggons getrieben, haben sie zuerst auf dem Boden gelegen, dann sich abfahrtbereit auf dem engen<br />

Raum ohne Lebensmittel für die Reise wiedergefunden. Sofort ist ihnen klargeworden, daß eine große Prüfung bevorstand.<br />

"Achtung, Achtung!" hat man sie ohne Vorbereitung benachrichtigt:<br />

"tagsüber stehen, nachts sitzen!" . . . "Nicht verschwinden! Bei jeder Übertretung dieser Anordnung sofort erschossen!<br />

Verstanden?"<br />

Der deckenlose Waggon, die Kälte, der noch immer fallende Regen, man hatte schon anderes erlebt. Aber nichts zu essen:<br />

nichts zu essen!<br />

Um das Unglück voll zu machen, war schon seit Wochen kein Gramm Brot mehr ins Lager gekommen und es war<br />

notwendig geworden, sich mit dem zu bescheiden, was die Silos noch enthielten: helle Suppe von Kohlrüben, ein Liter<br />

(manchmal ein halbes Liter), zwei kleine Kartoffeln am Abend nach der langen und harten Tagesarbeit. Nichts zu essen:<br />

doch alles verschwindet vor jener Drohung, die darin besteht, daß sie erst jetzt ein Gerücht gehört haben, nach welchem die<br />

Amerikaner auf zwölf Kilometer heran sein sollen.<br />

Nichts zu essen, am Tage stehen, nachts sitzen . ..<br />

Vor dem Ende der ersten Nacht waren drei oder vier von ihnen, die allzu beschleunigt den Wunsch zur Befriedigung eines<br />

dringenden Bedürfnisses zu erkennen gegeben hatten, am Kragen gepackt, roh gegen die hohe Außenwand des Waggons<br />

gestoßen und schonungslos erschossen worden:<br />

Kra-a-ack! gegen das Holz, Kra-a-ack!<br />

Man ist dazu übergegangen, in seine Hosen zu machen, zuerst vorsichtig, zurückhaltend, um sich möglichst wenig zu<br />

beschmutzen, dann hat man sich schrittweise weiter gehen lassen.<br />

Drei oder vier anderen, die während des folgenden Tages vor Erschöpfung umfielen, hat man kaltblütig mit einer Kugel in<br />

den Kopf den Garaus gemacht.<br />

Kra-a-ack! gegen den Boden, Kra-a-ack!<br />

Die Körper wurden, nachdem die Listennummern abgenommen worden waren, jeweils über Bord geworfen: bei Beginn der<br />

dritten Nacht sind die Reihen erheblich gelichtet, man ist vom Schrecken zur Todesangst,<br />

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und von der Todesangst zur völligen Ergebung in das Schicksal gelangt. Man hat es aufgegeben, aus dieser Hölle zu<br />

entkommen, man hat sogar auf das Leben verzichtet: jetzt kann man nicht mehr verhindern, in der Jauche sterben zu<br />

müssen. Es regnet, regnet, regnet.

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