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DIE LÜGE DES ODYSSEUS

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Ein Lyoner, der sich Chefredakteur des "Effort" nannte — sehen Sie einmal, diese Empfehlung! —, ein Oberst, wenn ich<br />

mich noch recht erinnere, ein hoher Beamter der Lebensmittelverteilung und ein kleiner Hinkefuß, der sich als Kommunist<br />

bezeichnete, den aber alle Toulouser beschuldigen, sie bei seiner Vernehmung der Gestapo überliefert zu haben, stellen ein<br />

Programm für die Reihenfolge der Lieder und Vorträge über die verschiedenartigsten Gegenstände auf. Bis zum Sonntag<br />

hören wir einen Bericht über die Syphilis bei Hunden, einen anderen über die Erdölförderung in der Welt nach dem Kriege,<br />

einen dritten, in welchem die Organisation der Arbeit in Rußland und Amerika verglichen wurden: diese Reden finden bei<br />

uns aber kein Verständnis.<br />

Am Sonntag ein fortlaufendes Programm von drei bis sechs Uhr mit einem Regisseur. Ein Dutzend Freiwillige, von denen<br />

jeder "das Seine" beiträgt; die verschiedensten Gefühle sind aus dem Grunde der Seelen aufgestiegen, die verschiedensten<br />

Persönlichkeiten haben sich betätigt:<br />

von der "Zerbrochenen Violine" bis zum "Elsässischen Soldaten" über "G. D. V." 2 ), "Margot bleibt im Dorfe" und "Herz<br />

im Flieder". Die gewagtesten derben Spaße, auch die drolligsten Monologe. Diese Hanswurstiaden stehen in schreiendem<br />

Widerspruch zu dem Ort und dem Publikum, zu der Lage, in der wir uns befinden und zu den Sorgen, die wir eigentlich<br />

haben sollten: die Franzosen verdienen entschieden den Ruf des Leichtsinns, den ihnen die Welt verliehen hat.<br />

Schließlich singt ein intelligenter, hübscher Junge von zwanzig Jahren mit warmer Stimme "Die kleine Kirche" von Jean<br />

Lumiere und führt alle in einem gemeinsamen Heimweh zueinander:<br />

"Ich weiß eine kleine Kirche in einem kleinen Dörfchen ..."<br />

Allen steigen die Tränen in die Augen, die Mienen bekommen wieder den Ausdruck des Menschlichen, diese aus der Bahn<br />

Geworfenen werden<br />

2) "G. D. V." = "Gueules des Vaches" = Großschnauzen (der Obers.).<br />

wieder zu Menschen. Ich mache mir klar, daß "Der langsame Galoubet von Bertrandou, die alte Hirtenflöte", für die Jungen<br />

aus der Gascogne von Cyrano und Bergerac gedacht waren. Ich verzeihe den Philanthropen und vom Lager aus gelobe ich<br />

Jean Lumiere ein ewiges Gedenken.<br />

* * *<br />

In der zweiten Woche Wechsel in der Ausschmückung: es sind noch Formalitäten zu erfüllen. Am Montagmorgen dringen<br />

die Krankenpfleger in den Block ein, in der Hand die Lanzette: die Pockenimpfung. Alles mit nacktem Oberkörper in den<br />

Schlafraum; bei der Rückkehr wird man im Vorbeigehen zusammengenommen und in der Reihe geimpft. Der Vorgang<br />

wiederholt sich mit einigen Tagen Unterbrechung drei- oder viermal. Am Nachmittag sucht die politische Abteilung uns<br />

heim und nimmt eine eingehende Untersuchung über Zivilstand, Beruf, politische Einstellung, Gründe der Verhaftung und<br />

der Verschickung vor: dies sind drei oder vier schwere Tage nach den Impfungen und dem Sch . .. dienst.<br />

Der Sch ... dienst: ach! meine Freunde. Alle Fäkalien der etwa dreißig- bis vierzigtausend Lagerinsassen laufen in einem<br />

Bassin zusammen, das als Sammelbecken für alle Entleerungen dient. Da nichts verloren" gehen darf, schüttet täglich ein<br />

Sonderkommando die kostbaren Produkte in die dem Lager unterstehenden Gärten, die das Gemüse für die SS züchten.<br />

Seitdem ständig Zugang an Transporten von Ausländern stattfindet, setzen die deutschen Häftlinge, die die<br />

verwaltungsmäßige Leitung des Lagers in der Hand haben, sich in den Kopf, diese Arbeit von den Neuangekommenen<br />

ausführen zu lassen; für sie ist es dasselbe wie der alte traditionelle Spaß, den man mit den Rekruten in den französischen<br />

Kasernen macht, und dies belustigt sie ungeheuer. Dieser Dienst ist einer der härtesten: die Häftlinge, die zu zweien an eine<br />

"Trage" (ein Holzgefäß in Form eines Pyramidenstammes mit viereckiger Basis) gestellt werden, die die Sache enthält,<br />

laufen wie Zirkuspferde in der Runde vom Bassin zu den Gärten, vierzehn Stunden hintereinander in Kälte und Schnee und<br />

kommen abends steif und stinkend zum Block zurück.<br />

Eines Tages kündigt man uns an, daß unser Block, ohne einem Kommando zugeteilt worden zu sein, während der<br />

restlichen Quarantänezeit jeden Vor- und Nachmittag eine Arbeitsabteilung für Steine zu stellen hat. Der Blockälteste hat<br />

entschieden, daß es für uns leichter wäre, wenn wir alle, das heißt die vierhundert, gingen und für jeden Dienst nur zwei<br />

Stunden draußen blieben, als Gruppen von je hundert Mann zu<br />

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bilden, die einander ablösen und zwölf Stunden geschliffen würden. Jedermann ist einverstanden.

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