DIE LÜGE DES ODYSSEUS
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000, die im Februar-März gekommen waren, blieben etwa 500 oder 400 am Leben. Die im Laufe des Mai Gekommenen<br />
mit den Nummern 45 000 bis 50 000 waren noch fast vollzählig vorhanden: aber nicht für lange.<br />
3) s. weiter hinten, Seite 152.<br />
KAPITEL IV<br />
Im Rettungshafen, dem Vorzimmer des Todes<br />
Als am 28. Juli 1945 der erste Transport am Tunneleingang in den Rübenfeldern ankam, war von einem Krankenbau noch<br />
keine Rede. Man hatte von Buchenwald nur Häftlinge geschickt, die als vollauf gesund bekannt waren; es war nicht<br />
vorgesehen, daß sie sofort krank werden könnten: falls diese Möglichkeit trotzdem eintreten sollte, hatte die SS Befehl, nur<br />
auf die schweren Fälle Rücksicht zu nehmen, sie durch Boten zu melden und die Entscheidung abzuwarten. Natürlich<br />
entdeckten die SS-Männer niemals schwere Krankheiten: wer Soldat war, wird dies leicht begreifen.<br />
Es war in diesem Jahre ein Hundewetter. Es regnete und regnete. Lungenentzündung und Rippenfellentzündung stellten sich<br />
ein: bei diesen geschwächten Mißhandelten, die tagsüber durchnäßt wurden und nachts in den feuchten Gesteinsmulden<br />
schliefen, hatten sie leichtes Spiel. Innerhalb von acht Tagen wurden die Unglücklichen von einem Unwohlsein erfaßt, das<br />
die SS-Männer für ein leichtes Fieber hielten, das am Ende schwierig wurde, ohne daß sie wußten, warum. In der<br />
Lagerordnung war vorgesehen, daß man unter 39,5 Grad nicht krank war, ein Fall, in welchem man "Schonung" oder<br />
Arbeitsbefreiung genießen konnte: solange man diese Temperatur nicht erreichte, war man arbeitsfähig und dies bedeutete<br />
den Tod.<br />
Dazu kam, was wir Dysenterie (Ruhr) nannten, das aber in Wirklichkeit nur ein nicht einzuhaltender Durchfall war. Ohne<br />
wahrnehmbaren Grund wurde man eines Tages von Verdauungsstörungen befallen, die sich rasch in eine völlige<br />
Unverträglichkeit verwandelten: die Nahrung (ständig gargedämpfte Rüben, Brot von schlechter Beschaffenheit) und die<br />
Unbilden der Witterung (ein Regen oder eine Erkältung im Verlauf der Verdauungsstörungen). Heilmittel waren keine<br />
vorhanden: man mußte abwarten, bis es aufhörte — ohne zu essen. Dies dauerte acht, zehn, vierzehn Tage, je nach<br />
Widerstandsfähigkeit des Kranken, der<br />
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immer schwächer wurde, schließlich umfiel und nicht mehr die Kraft hatte, sich zu bewegen, auch nicht für seine<br />
Bedürfnisse und dann durch ein damit verbundenes Fieber hinweggerafft wurde. Diese glücklicherweise leichter<br />
festzustellende Krankheit als die Lungen» oder die Rippenfellentzündung veranlaßte die SS, mit den vorhandenen Mitteln<br />
Maßnahmen zu treffen, um ihr Einhalt zu gebieten: sie befahl den Bau einer "Bude", zu welcher die Durchfallkranken in<br />
einem besonderen Raum ohne Forderung nach Temperatur je nach Maßgabe der verfügbaren Plätze zugelassen wurden.<br />
Die "Bude" konnte etwa dreißig Personen aufnehmen: rasch waren es fünfzig, hundert Anwärter und mehr, ihre Zahl<br />
vermehrte sich unaufhörlich in dem Maße, in welchem Transporte von Buchenwald ankamen und das Lager an Ausdehnung<br />
zunahm. Für gewöhnlich wurden die Durchfallkranken im letzten Stadium hingeschickt und mußten dort sterben. Sie<br />
wurden auch auf dem Boden zusammengepfercht, einer neben dem anderen, sich untereinander vergessend: es war eine Pest.<br />
Dies ging so weit, daß die SS aus Gründen der Hygiene die erste Häftlingsführung beauftragte, einen Pfleger zu bestimmen,<br />
um die Kranken in Zucht und Ordnung zu halten. Der Posten wurde — natürlich! — einem Grünen anvertraut, der von<br />
Beruf Schreiner und wegen Mordes zum Tode verurteilt war: es wurde eine schöne Arbeit! . . .<br />
Nach Tagen stand man am Eingang der "Bude" Schlange: der Pfleger beruhigte die Ungeduldigen mit dem Gummiknüppel<br />
in der Hand. Von Zeit zu Zeit wurde eine Leiche aus dem Gestank herausgetragen und machte einen Platz frei, der im<br />
Sturm genommen wurde. Die Zahl der Durchfallkranken wuchs weiter: da die SS festgestellt hatte, daß der Pfleger seiner<br />
Aufgabe nicht gewachsen war, und dieser geltend machte, es sei zuviel Arbeit für einen Einzelnen, teilte man ihm einen<br />
Helfer zu, von dem die SS verlangte, daß er an der Pflege teilnehmen sollte. Der Posten fiel einem holländischen Arzt zu,<br />
der bis dahin beim Materialtransport vom Bahnhof zum Tunnel beschäftigt gewesen war. Von diesem Augenblick an wurde<br />
die "Bude" menschlicher. Der Pfleger wurde Kapo, der Holländer arbeitete unter seinem Befehl und leistete diplomatische<br />
Wunderdinge: es gelang ihm, einen Durchfallkranken zu retten, dessen Genesung er verheimlichte, um ihn als<br />
Krankenpfleger zur Hand zu haben. Mit einem großen Aufwand an Holzkohle wurde der Durchfall eingedämmt, die SS<br />
erklärte sich zufriedengestellt, die "Bude" konnte anderen Zwecken dienen: das erste Revier war geboren.