Bbl 2001 1715 - admin.ch
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und dem französis<strong>ch</strong>en und dem italienis<strong>ch</strong>en Text, die auf den Ausdruck «égalité de<br />
droit» 110 bzw. «parità dei diritti» 111 zurückgreifen. Der Titel der Initiative «Glei<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>te für Behinderte» («Droits égaux pour les personnes handicapées» / « Parità di<br />
diritti per i disabili») könnte vorerst nahe legen, dass nur eine re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung<br />
anvisiert wird. Der Titel einer Volksinitiative muss jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t notwendigerweise<br />
über alle ihre inhaltli<strong>ch</strong>en Elemente Auskunft geben, sondern kann si<strong>ch</strong> darauf<br />
bes<strong>ch</strong>ränken, die hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Idee auszudrücken112. Wie wir in der Folge sehen<br />
werden, besteht die eigentli<strong>ch</strong>e Idee der Initiative in einer spezifis<strong>ch</strong>en Gewährleistung<br />
des Glei<strong>ch</strong>stellungsprinzips, eins<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung.<br />
Dazu kommt, dass die Initiative in der deuts<strong>ch</strong>en Fassung vorgestellt wurde, während<br />
die französis<strong>ch</strong>e und die italienis<strong>ch</strong>e Fassung Übersetzungen sind113. Für die<br />
Interpretation des Textes ist somit die deuts<strong>ch</strong>e Version massgebli<strong>ch</strong>, und es ist zu<br />
bedenken, dass Artikel 4bis Absatz 2 erster Satz die Glei<strong>ch</strong>stellung, und ni<strong>ch</strong>t nur die<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung, gewährleistet.<br />
Ein zweites Auslegungsproblem betrifft den Gehalt selbst des Begriffs der Glei<strong>ch</strong>stellung<br />
(égalité) im Kontext der Initiative. Gemäss einer gängigen Auslegung unters<strong>ch</strong>ied<br />
si<strong>ch</strong> der Begriff «Glei<strong>ch</strong>stellung» («égalité» / «uguaglianza») von demjenigen<br />
der «Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung» und meinte bis zur Annahme der neuen Verfassung eine<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung. Diese Unters<strong>ch</strong>eidung ging aus Artikel 4 Absatz 2 aBV<br />
(Glei<strong>ch</strong>stellung der Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter) klar hervor, wona<strong>ch</strong> der erste Satz die Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung<br />
(«… glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigt»), der zweite die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung<br />
(«Glei<strong>ch</strong>stellung») gewährleistete114. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung<br />
haben si<strong>ch</strong> die Dinge jedo<strong>ch</strong> geändert. Artikel 8 Absatz 3 zweiter Satz präzisiert nun<br />
den Begriff «Glei<strong>ch</strong>stellung» im Sinne einer «re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>stellung»<br />
(«egalité de droit et de fait» / «uguaglianza di diritto e di fatto»). Dies führt<br />
zur Feststellung, dass die Einfügung dieser beiden Begriffe (re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>)<br />
zu einer Neutralisierung des Hauptbegriffs (Glei<strong>ch</strong>stellung) geführt hat, der<br />
seither ni<strong>ch</strong>t mehr darauf bes<strong>ch</strong>ränkt ist, einzig die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung zu<br />
bezei<strong>ch</strong>nen. Im Zeitpunkt der Lancierung der Volksinitiative (Sommer 1998) bestand<br />
zwis<strong>ch</strong>en den beiden Räten bezügli<strong>ch</strong> Artikel 8 Absatz 3 zweiter Satz BV jedo<strong>ch</strong><br />
no<strong>ch</strong> eine Differenz hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Bedeutung des Begriffs der Glei<strong>ch</strong>stellung115.<br />
Somit bestand, was die Tragweite des Begriffs der «Glei<strong>ch</strong>stellung» betraf,<br />
keine Gewissheit. Daher muss Artikel 4bis Absatz 2 unabhängig von der in Artikel 8<br />
Absatz 3 zweiter Satz BV verwendeten Terminologie ausgelegt werden.<br />
Nun zeigt eine unabhängige und systematis<strong>ch</strong>e Auslegung des Initiativtextes, dass<br />
Absatz 2 auf eine Glei<strong>ch</strong>stellung zielt, wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> von der blossen Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>ti-<br />
110 Vgl. oben Ziff. 1.1.1<br />
111 Vgl. den Wortlaut der Volksinitiative in der italienis<strong>ch</strong>en Fassung im Bundesblatt,<br />
FF 1999, 6256, 1998 3117.<br />
112 Soweit er nur die Behinderten erwähnt, trägt der Titel der Initiative au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dem allgemeinen<br />
Charakter des Diskriminierungsverbots von Abs. 1 Re<strong>ch</strong>nung. Aber es ist klar,<br />
dass die allgemeine Tragweite dieser Klausel ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> den eins<strong>ch</strong>ränkenden Initiativtitel<br />
in Frage gestellt werden darf. Es sei no<strong>ch</strong> angefügt, dass der Titel einer Volksinitiative<br />
in seinem allgemein verständli<strong>ch</strong>en Sinn zu begreifen ist. So umfasst die Formulierung<br />
«Glei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te für Behinderte» für viele Leser au<strong>ch</strong> die materiellen Mittel,<br />
deren diese Personen bedürfen, um ihre Re<strong>ch</strong>te auszuüben.<br />
113 In Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 2 der Verordnung vom 24. Mai 1978 über die politis<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>te (SR 161.11) wurden die Übersetzungen von den Initianten genehmigt.<br />
114 BGE 125 I 21, Erw. 3a, 24 f., mit zahlrei<strong>ch</strong>en Hinweisen auf Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung und Doktrin;<br />
BBl 1993 I 1262, 1320 f.<br />
115 AB NR 1998 1756–1765, 2364–2366; SR 1998 691.<br />
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